Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
stinknormale Sekretärinnen. Sie, Aoife, wisse ja gar nicht, was für ein Glück sie habe.
    Doch das sieht Aoife ganz anders. Sie fühlt sich wie eine Verdammte, wie eine Märchenfigur, die von grausamen Mächten mit einem Fluch belegt wurde, etwa mit einem Flügel dort, wo eigentlich der Arm sein sollte. Sie sieht sich als eine, die zu einem Leben unter der Erde verurteilt ist. Bleibt sie dort nicht, unter der Erde, verwandelt sie sich in ein Reptil. Denn sie, Aoife, kann nicht lesen. Sie kann gerade die eine Sache nicht, die allen anderen so unglaublich leichtfällt: eine Abfolge gedruckter Zeichen sehen und daraus eine Bedeutung generieren. Sie kann Buchstaben hinmalen, sie bringt sie, mit Füller oder Bleistift, zu Papier, aber nie in eine Reihenfolge, die andere auch verstehen. Sie kann sich Wörter merken, sie kann sie im Kopf behalten, sie hortet sie dort in Massen, als Sätze, Absätze, ganze Bücher, aber diese Wörter fließen nie mehr zurück in ihren Arm und durch die Finger auf ein Blatt Papier. Sie weiß nicht, warum das so ist. Sie hat den Verdacht, dass sie als Baby den Weg eines Hexenmeisters kreuzte, der gerade schlechte Laune hatte und ihr noch im Kinderwagen die magische Fähigkeit des Lesenlernenkönnens nahm, auf dass sie verdammt sei, für alle Zeit auf den Klippen von Analphabetismus und Unbildung zu schmachten.
    An ihrem ersten Tag im Studio reichte ihr Evelyn einen Arbeitsvertrag und bat sie, ihn durchzulesen und auszufüllen. Aoife hatte den Vertrag genommen und auf den Tisch gelegt und erst wieder angesehen, als Evelyn weg war. Dann, mit einem verdeckten Auge, beugte sie sich darüber. Eine Tonnenlast auf ihrer Brust nahm ihr die Luft. Bitte, betete sie – bloß zu wem? –, bitte, bitte, lass es mich schaffen, nur dieses eine Mal. Ich tue auch alles, was du willst. Das Wort »Arbeitsver trag« verstand sie noch, es stand ganz oben. Das war schon einmal gut, denn davon hatte Evelyn auch gesprochen. Oder hatte sie Vortrag gesagt, »Arbeitsvortrag« statt Arbeitsvertrag? Vor, nicht Ver? Sie kam ins Schlingern. War das eigentlich ein e? E war das Enge, Eingeklemmte. O war das Offenherzige. O wie offen. Wirklich? Oder umgekehrt? Aoife presste die Handballen fest auf ihr linkes Auge und scannte die in Bewegung geratenen Buchstabenschlangen, aus denen die Wörter waren. Oder hieß es sogar ganz anders, irgendwas mit Arbeitsvorlage? Wenn sie so überraschend auftauchten, mitten in einem Wort, sahen t und l so ekelhaft ähnlich aus. Panik schnürte ihr den Hals zu, sie vertagte die endgültige Entscheidung. In Panik eilte ihr Auge weiter bis nach ganz unten, ans Ende der Seite, wo ihr klar wurde, dass sie verloren war. Denn der Text war so klein, so wahnwitzig winzig gedruckt, eigentlich war es schon kein Text mehr, es waren lange, ungenaue Striche, im besten Fall Kolonnen von mikroskopischen Ameisen, die über das Weiß der Seite liefen, sich zusammenballten und trennten und sich dann wieder neu gruppierten – nicht einmal immer in einer Linie von links nach rechts, sondern manchmal auch von oben nach unten oder sogar gebogen wie Grashalme im Wind. Einmal sah sie ein v, das sich in die leeren Arme eines b werfen wollte, ein andermal sah sie ein a in verdächtiger Nähe zu einem o, was sie an ihren eigenen Namen erinnerte. Ein andermal blieb sie an einem Buchstabenhaufen hängen, der – vielleicht – so etwas bedeutete wie »vereinbart« oder »beinhart«, doch schon in derselben Sekunde hatte sich selbst diese Ahnung von Sinn verflüchtigt. Sie kämpfte gegen die Tränen an und wusste zugleich, dass das Spiel verloren war, der Job, ihre große Chance ging in diesem Moment den Bach runter wie schon so viele zuvor. Sie überlegte, ob sie nicht einfach aufstehen und gehen sollte, als sie Evelyn im Flur hörte.
    Aoife wusste später nicht, wie sie auf die Idee gekommen war. Sie wusste nur, dass sie den Vertrag nahm, mit spitzen Fingern, als handle es sich um kontaminiertes Material, und ihn kurzerhand in die blaue Aktenmappe schob, die sie dann in einen Karton auf dem Aktenschrank legte.
    Als Evelyn wieder zurück war, fragte sie: »Alles okay mit dem Vertrag?«
    Und weil Aoife den Job so dringend haben wollte (und warum sollte sie nicht einen guten Job haben, einen interessanten Job wie andere Leute auch und zur Hölle mit dem verdammten Hexenmeister!), lächelte sie so verbindlich wie möglich, faltete zufrieden die Hände und sagte: »Alles gebongt.«
    Im Lagerraum angekommen kippt sie die

Weitere Kostenlose Bücher