Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Ich habe den Zug genommen, genauer gesagt, mehrere. Du glaubst nicht, wie lange ich unterwegs war.«
»Kannst du mir später erzählen.«
»Wirklich?« Sie hört das Lächeln in seiner Stimme. »Kannst du dich denn freimachen?«
»Klar. Evelyn ist bei einem Geschäftsessen, und ich habe den Nachmittag offiziell frei bekommen.«
»So in einer halben, Dreiviertelstunde bei dir?«
»Bis dann, ich freu mich.«
Sie schiebt die Kontaktabzüge zu einem Haufen zusammen, kippt die Schalen mit Entwickler, Stopp- und Fixierbad in den Ausguss und spült sie unter dem Wasserhahn ab. Als sie aus der Dunkelkammer kommt, trifft sie die volle Helligkeit der Nachmittagssonne. Dass die Außenwelt so feindlich grell ist, überrascht sie. Es ist, als habe sie in dem abgedunkelten Raum jedes Gefühl für die Tages- oder Jahreszeit verloren. Aoife rennt durch die Wohnung, sammelt Jacke, Sonnenbrille, Hausschlüssel, ihre Tasche ein. Dann geht sie nach unten, hinaus auf die Straße und runter in die U-Bahn.
Der Bahnsteig ist überfüllt, die Hitze drückend, doch die Einfahrt der Züge bringt mit einem Schwall U-Bahn-Luft je des Mal etwas Erleichterung. Aoife stellt sich zu den Wartenden. Links von ihr streiten sich zwei Männer auf Italienisch, wobei der eine sich immer wieder entnervt an den Kopf schlägt. Rechts steht eine ältere Dame mit Fuchsschal und Spitzenhandschuhen. Aus irgendeinem Grund fällt Aoife jetzt ihre Mutter ein. Gretta hat ihr einmal von ihrer Tante erzählt. Die hatte auch so einen Fuchsschal, aber mit einem beweglichen Maul, das sich wie ein Clipverschluss am Schwanz verbeißen konnte.
Aoife steht am Bahnsteig, und ihr Kleid raschelt im Luftzug. Sie stellt sich ihre Mutter als Kind vor und wie es den Kopf dieses Fuchses anfasst. Dann kommt ihre Bahn, und sie rückt vor. Im Gedränge vor der Tür berührt der Fuchspelz ihren Arm.
Als sie in der Delancey Street wieder nach oben kommt, überlegt Aoife, ob sie noch einkaufen soll. Sie braucht Milch, sie braucht Frühstücksflocken und ein Brot, Basics, die fast jeder im Haus hat. Vor dem Supermarkt bleibt sie stehen, dort sind die Obstregale. Erst zieht sie die Orangen in Betracht, greift aber nach einer Birne, spürt ihre Festigkeit, ihre mäusefellartige Schale. Eine Frau mit Kind auf dem Arm langt an ihr vorbei nach den Bananen und sagt dabei – fast wie zu Aoife: Du wirst schon sehen, was du davon hast. Im Eingangsbereich steht ein alter Mann und zählt Kleingeld von einer Hand in die andere. Ungeduld umschließt Aoife wie ein Mantel, sie will jetzt nicht in diesen Supermarkt, die Schlange an der Kasse wäre zu viel für sie. Sie legt die Birne vorsichtig wieder zu den anderen ihrer Art. Im Weggehen hört sie noch, dass das Kind auf die angebotene Banane mit hochfrequentem Brüllen reagiert.
Als die Wohnungstür aufgeht, ist sie so erleichtert, als sei sie wochenlang nicht mehr zu Hause gewesen. Erschöpft lehnt sie sich von innen an die Tür, lässt ihre Tasche fallen und wirft den Schlüsselbund auf die Badewannen-Anrichte-Kombination. Sie zieht das Bettlaken glatt und befördert allerlei Sachen mit dem Fuß unter das Bett, schmutzige Klamotten, gebrauchte Tassen, einzelne Schuhe. Sie ist gerade dabei, weitere Kleidungsstücke in ihren Schrank zu stopfen, als es an der Tür klopft, und plötzlich ist Gabe da und hebt sie hoch, seine Haare sind jetzt viel kürzer, und seine Jacke ist nass, und er sagt etwas über die Scheißgegend hier und wie man nur da wohnen kann.
Aoife ist Gabe drei Monate zuvor auf einem Fototermin begegnet. Evelyn machte gerade Porträts von Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte schon einen Tätowierer mit seiner Tattoomaschine, die Dame vom Hundesalon inmitten ihrer Utensilien, eine Kostümbildnerin mit mindestens einem Dutzend Stecknadeln im Mund. Der letzte in der Reihe sollte ein Sternekoch sein, der für seine Tobsuchtsanfälle ebenso bekannt war wie für die Geheimniskrämerei um seine Rezepte und bei dem man für einen Tisch lange Wartezeiten in Kauf nehmen musste.
Evelyn wollte, dass sich Arnault, so hieß er, gegen eine Anrichte in der Küche lehnte, damit sie die ganze Küche aufs Bild bekam. Die Küche als Ort von Dampf und blitzendem Stahl. Man sollte die Messerhalter an der Wand sehen können, die Tellerstapel, die flammenden Kochstellen. Arnault hingegen hatte andere Vorstellungen. Er sah sich lieber in seinem Maßanzug abgelichtet, vor der Spiegelwand seines Restaurants, umgeben von silbernen Kerzenhaltern und
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