Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
willst du denn hier?«, womit er mindestens gerechnet hätte. Sein Vater sagte aber gar nichts, sondern studierte gerade einen Aktenordner, den er anschließend so resolut zuklappte, dass Michael Francis’ Herz einen Satz machte. »Dann schauen wir mal nach«, sagte sein Vater daraufhin und ging zu einem großen Aktenschrank, wo er eine Hängeregistratur zog. Michael Francis konnte mittlerweile – tum-ti-tum, tum-ti-tum! – sein Herz pochen hören. Obwohl der Vater ihm so nah war, sah er ihn offenbar nicht. Der Blick seines Vaters richtete sich in die Tiefen der Regis tratur mit Hunderten Aktenheftern. Michael Francis wagte kaum zu atmen und wollte nur die ihn umgebenden Eindrücke sammeln, um sie später zu verarbeiten: die kühlen Sessellehnen, die Bleistifte mit den makellos rosa Radiergummis, die Nähe seines Vaters, der sich völlig versunken über irgendwelche Akten beugte.
Dann drehte sich sein Vater um – und fuhr zurück. Der Aktenhefter fiel ihm aus der Hand. Dann sagte er: »Du bist das?«, die Stimme ganz dünn vor Schreck. Diese drei Worte sollte Michael Francis nie vergessen. Aber dann war plötzlich alles vorbei, eine Sekretärin eskortierte ihn zurück zur Schule, und später, als er nach Haus kam, lag sein Meccano-Baukasten zur Strafe ganz oben im Schrank und blieb auch wochenlang dort.
Er streicht mit dem Dachshaarpinsel über sein Kinn und besieht sich dabei in dem kleinen Spiegel. Ohne seine Mutter bleibt sein Vater eine unlösbare Gleichung. Sein Schweigen erhält erst durch ihre Beredsamkeit eine Bedeutung, sein Ordnungssinn, seine Gleichmut stehen dem Gretta-Chaos, dem Gretta-Drama gegenüber. Einen Robert ohne Gretta-Befeuerung hat noch niemand gesehen, daher kann sich Michael Francis auch nicht vorstellen, wie er vor der Zeit mit Gretta war. Wie hat er bloß überlebt? Wer hat für ihn das Dasein geregelt? Aus der Vorzeit seines Vaters sind ihm eigentlich nur drei Dinge bekannt. Dass er in Irland geboren ist. Dass er einen Bruder hatte, der gestorben ist. Und dass er Dünkirchen miterlebt hat. Das ist alles. Letzteres wurde aber nur offenbar, weil er eines Abends in der Küche seine Hausaufgaben machte und das Geschichtsbuch aufgeschlagen vor ihm lag. Plötzlich kam eine Hand angeschossen und knallte das Geschichtsbuch zu, und seine Mutter sagte mit einem vorsichtigen Blick nach hinten: Lass das bloß deinen Vater nicht sehen. Er las aber später auf seinem Zimmer weiter, sah Bilder von Fischern, die Soldaten aus dem Wasser zogen, und auch eine Lagekarte mit den Positionen der verschiedenen Trup penteile im Kessel von Dünkirchen. Er dachte daran, was seine Mutter erzählt hatte, nämlich dass sein Vater einer der Letzten war, der es noch aus der deutschen Umklammerung geschafft hatte, obwohl er selber nicht mehr daran glaubte. Wie fühlt man sich, wenn hinter dir der Feind steht und vor dir nur das Meer? Michael Francis dachte lange darüber nach. Aber mit siebzehn, kurz vor der Abiturprüfung, machte er das Geschichtsbuch wieder zu und verschwendete auf diese Episode sehr lange keinen einzigen Gedanken mehr.
Von ihrem Beobachtungsposten aus sieht Monica, wie Peter die Katze aufhebt. Der Tierarzt hat sie klugerweise in eine Decke gewickelt. Die Kinder dürfen die – sie muss sich zu dem Wort zwingen –, dürfen die Wunde nicht sehen. Peter hat es deshalb so eingerichtet, dass nur der Kopf freiliegt. Sanft schiebt Jenny die Mädchen weiter, aber sie klammern sich an ihren Rock, ihren Arm, ihre Hand. Es muss sich seltsam anfühlen, auf diese Weise von Kinderhänden in Beschlag genommen zu werden. Wie Gulliver. (Aoife liebte die Geschichte.) Florence reißt den puterroten Kopf nach hinten und heult hemmungslos. Jenny drückt sie an sich, und Monica kann erkennen, dass auch sie weint, als sie die Hand ausstreckt und den Katzenkopf zwischen den Ohren streichelt, wo kaum sichtbare Tigerstreifen zusammenlaufen. Monica merkt, dass ihre Finger unwillkürlich dasselbe tun wollen. Noch einmal dieses flauschige Fell fühlen. Natürlich geht das nicht. Sie kann jetzt nicht nach unten gehen und ringt stattdessen die Hände.
Peter hat es rundweg abgelehnt, die Verantwortung für die eingeschläferte Katze zu übernehmen, nicht einmal diese kleine Bitte konnte er ihr erfüllen. Sie lag neben ihm im Bett und konnte noch so lange betteln, er blieb hart. Er hatte sich im Übrigen auch längst von ihr weggedreht. Die Kinder anlügen, das ging gar nicht.
Jessica bleibt etwas zurück, wie Monica
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