Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
dieses Detail zurück, doch von diesem Tag an hatte Michael Francis das diffuse Gefühl, seine Körpergröße sei für den Vater ein Problem, das er in seiner wahren Dimension höchstens erahnen konnte. So oder so, sie müssen zusammen in diesem Badezimmer gestanden haben, und er sucht angestrengt nach irgendeinem Erinnerungssplitter, doch nichts. Eines Tages wird er sein Wissen an Hughie weiterreichen, das große Männerding. Aber der Gedanke erscheint ihm schon jetzt absurd.
Seit er in Rente ist, ist er also richtig aufgelebt? Michael Francis kann darüber nur laut lachen – und erschrickt, denn das winzige Klo haut ihm jedes Geräusch sofort um die Ohren.
»Ich sage ja nur«, ruft seine Mutter aus der Küche.
Wenn man Michael Francis fragte, war Robert im Ruhestand auch nicht glücklicher als vorher, denn dem Gefühl der Sinnlosigkeit entging er hier erst recht nicht. Und Robert ertrank in Sinnlosigkeit. Wenn man also Michael Francis fragte, war der Ruhestand das Schlimmste, das Robert überhaupt passieren konnte, denn sein Beruf hatte ihm immerhin so etwas gegeben wie eine feste Tagesstruktur. Sein Beruf war der Grund, weswegen er morgens aufstand, sein Beruf gab ihm einen Platz, an dem er seine Zeit zubringen konnte, und eben einen anderen für die Abende. Ohne diesen Rahmen trieb er ziellos umher.
Allerdings weiß er nicht genau, wie sein Vater tatsächlich den verdienten Ruhestand bewältigte. Er weiß nur, wie sich seither ihre Gespräche anhörten.
»Hallo, Dad, wie geht’s?«
»Gut. Und selber?«
»Was hast du so getrieben?«
»Nicht so viel. Und du?«
Michael Francis hat den Verdacht, dass er nur noch Grettas Anhängsel war – wogegen sein Vater wahrscheinlich nicht einmal viel einzuwenden hatte. Robert hatte Gretta ja immer verehrt und jede Entscheidung von ihren Wünschen und Launen abhängig gemacht. Jedenfalls erheblich mehr, als es bei den Vätern in seinem Freundeskreis üblich war, wo kein Mann nach der Pfeife seiner Frau tanzte. Schon als Kind hatte er gespürt, wie sehr sein Vater auf seine Mutter fixiert war. Sobald sie das Haus verließ, was sie als umtriebiger und geselliger Mensch ziemlich oft tat, weil sie Nachbarn besuchen wollte oder die Messe oder weil sie dem Pfarrer auf die Nerven gehen oder bloß irgendwo eine Tüte Milch kaufen wollte, wurde sein Vater nervös. Dann lief er ruhelos durchs Wohnzimmer und wollte immer wieder wissen, wohin die Mutter gegangen sei und wann sie zurückkäme. Mit seiner Ängstlichkeit steckte er auch Monica an, die sich dann am Wohnzimmerfenster aufstellte und ebenfalls die Wiederkunft der Gretta erwartete. Natürlich kam Gretta immer wieder, und man sah sie auch schon von Weitem, wie sie, oft noch in ihrer Kittelschürze, summend und bester Laune durch die Straße dampfte und das Begrüßungskomitee der Gretta-Abhängigen gar nicht verstehen konnte. »Wartet ihr hier auf den Bus, oder was?«
Als Kind hatte sich Michael Francis oft gefragt, wie sein Vater bei der Arbeit zurechtkam – ohne seine Gretta, die ihn antrieb und alles entschied. Sein Vater ohne Gretta-Antrieb war für ihn schlicht unvorstellbar. Er muss etwa neun Jahre gewesen sein, als er sich einmal, zur Mittagspause, aus der Schule verdrückte und, ohne es recht zu wollen, zu der Bank ging, in der sein Vater arbeitete. Wo die Bank war, wusste er, denn Gretta hatte ihn in den Sommerferien einmal dorthin mitgenommen. Er und Monica durften die Katakomben besichtigen, in denen das Geld der Leute lagerte, durften in den Drehstühlen Karussell fahren und sogar den Knopf sehen, den der Kassierer drücken konnte, wenn ein Bankräuber kam. In dieser Bank arbeitete sein Vater, er war dort stellvertretender Direktor, das wusste Michael Francis. Trotzdem war er überrascht von der langen Schlange vor dem Schalter, den Sekretärinnen, die auf ihre Schreibmaschinen hämmerten, und dem großen Schreibtisch mit dem Namensschild seines Vaters.
Doch dieses Mal ging er allein hin. Es war kurz nach Aoifes Geburt, und er war vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Er ging also durch den Eingang, dann zwischen den roten Absperrseilen hindurch bis zu einer Reihe Stühle, die er noch vom Sommer kannte, und setzte sich dort hin. Als die Tür aufging und sein Vater »Herein!« sagte, ging er hinein, setzte sich auf den Drehsessel vor dem Schreibtisch und wäre jetzt wieder gern Karussell gefahren, so wie im Sommer, traute sich aber nicht, weil sein Vater gar nichts sagte. Nicht einmal »Was in Gottes Namen
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