Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Tinte, mit Füller geschrieben, aber in einer unbekannten Handschrift.
Jemand fasst ihn an, und er zuckt zusammen.
»Nun, Michael Francis, was gibt’s Neues?« Es ist Bridie, und sie spricht ihn an, weil sie der Meinung ist, dass wesentliche Fragen zuallererst an den männlichen Haushaltsvorstand zu richten sind. Auch darin unterscheidet sie sich von Gretta.
»Leider nichts«, sagt er und stopft den Zettel zusammen mit dem Umschlagfetzen in die Hosentasche. Da sie ihm ihr Tablett hinhält, greift er blind zu und steckt sich ein ganzes Sandwich-Dreieck auf einmal in den Mund. Dass es eines von der ungeliebten Eiersalat-Sorte ist, merkt er zu spät.
»Wirklich gar nichts?«, fragt sie mit gesenkter Stimme und rückt ihm verschwörerisch nah auf die Pelle.
»Hmmm-hmmm.« Mehr kriegt er mit der ekelhaften Pampe im Mund nicht heraus.
»Ich habe ja noch nie etwas von diesem Hampelmann gehalten«, platzt es aus ihr hervor, doch sie wird unterbrochen, ehe sie weiterreden kann.
»Schrecklich, ganz schrecklich«, äußert sich ein älterer Herr mit erstaunlich großen Ohren, der soeben hinzutritt. »Ja, das ist es«, beeilt sich Bridie zu sagen, dann knallt vorne die Haustür, und man hört hohe Absätze auf dem Flur. Michael Francis denkt: Das Ende ist nah, aber wieso hat Monica noch immer einen Hausschlüssel?
Aoife massiert ihrer Mutter den Rücken und sagt zu einer Frau auf dem Sessel daneben: »Nein, wir haben noch nichts von ihm gehört, aber wir hoffen, dass er sich bald meldet.« Dann bemerkt auch sie, was vorgeht.
Monica ist da, sie ist im Flur, sie kann es spüren, und das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie kann sich jetzt nicht nach ihr umdrehen, sie kann es einfach nicht, und dann tut sie es doch.
Ein ganzer Schwall von Gefühlen kommt über sie und zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie sieht, wie gut sich Monica gehalten hat, und auch die Hochsteckfrisur ist neu. Es steht ihr zwar nicht richtig gut, aber ganz schlecht ist es auch nicht. Außerdem stellt sie sich Monica an ihrem Schmink tisch vor, so ein Gebilde erfordert ja einige Mühe, und al lein das rührt sie. Dennoch, es ist nur Monica, nur Monica. Die Monica, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hat, ihre Schwester und nicht die Furie, für die sie sie in den vergangenen drei Jahren gehalten hat. Aoife steht auf, denn das macht man wohl in solch einer Situation, es ist schließlich ein Wiedersehen nach langer Zeit. Man umarmt sich und löscht einfach, was gewesen ist, man fängt noch einmal ganz neu an. Vielleicht, denkt sie, vielleicht kann sie sogar vergessen, was damals in Michael Francis’ Haus geschah, vielleicht müssen sie gar nicht mehr darüber reden.
Erst als sie fast vor Monica steht, merkt sie, dass diese sie keines Blickes würdigt. Schlimmer noch, Monica sieht sie nicht nur nicht an, sie sieht glatt an ihr vorbei, so als wäre Aoife gar nicht da. Aoife ist ihrer Schwester jetzt so nah, dass sie sie anfassen könnte, doch Monica weicht elegant in den Flur aus und meint, sie müsse erst einmal ihre Jacke aufhängen, denn die sei praktisch nicht zu bügeln und sie habe keine Lust, bei dieser Hitze einen ganzen Abend am Bügelbrett zu verbringen.
Aoife blickt ihr nach und dann auf einen leeren Türrahmen. Ihr Herz rast, und eigentlich müsste ihr Körper jetzt Gelegenheit bekommen, etwas zu tun, er ist zu allem bereit. Das Problem ist nur, sie kann gar nichts tun. Ihre Mutter hat ihr schönstes nichtssagendes Gesicht aufgesetzt, denn die ersten Leute wollen aufbrechen. Bridie räumt ganz plötzlich ab, und Gretta läuft Monica nach und sagt: »Warte, ich hole dir einen Bügel.«
Aoife geht zurück zu ihrem Sessel und setzt sich. Sie hat große Lust, ihren Kopf auf den vertrauten Stoff der Lehne zu legen und die Augen zuzumachen. Wann hat sie zuletzt geschlafen? Letzte Nacht im Flugzeug konnte sie nicht und in der Nacht zuvor auch kaum. Alles an ihr fühlt sich an, als wäre es aus Papier: dünn, kraftlos und unendlich leicht zerreißbar.
Sie blickt auf das Tablett, das neben ihr auf dem kleinen Tischchen steht, das Schlachtfeld der Krümel, die Seenplatte der Tee-Abdrücke. Der Jetlag macht sich als ein Gefühl bemerkbar, das irgendwo zwischen Hunger und Übelkeit liegt. Man müsste von allen, denkt sie, von allen ein genaues Bewegungsprofil anlegen, damit man im Fall ihres selbstgewählten Verschwindens genau weiß, wo man suchen soll. In ihrem Kopf geht sie den relevanten Personenkreis durch. Michael Francis: hängt immer noch
Weitere Kostenlose Bücher