Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
ihre Tochter am Handgelenk fest. »Was ist das denn?«
Es sind ihre bekritzelten Hände. Schwarze Graffiti, einige sind schon verwischt, andere klar als seitenverkehrt erkennbar. Aber Gretta kennt das schon bei ihrer Tochter, und die alte Enttäuschung entzündet sich aufs Neue.
»Nichts«, sagte Aoife, entzieht sich ihrem Zugriff und fläzt sich auf den Sessel. Ganz wie der missgelaunte Teenager von damals. Gretta kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, noch weniger könnte sie diese Gedanken ordnen. Zum ersten Mal seit Jahren sind alle ihre Kinder im Haus, doch sie findet ihre alte Rolle nicht mehr. Robert ist fort. Aoife bockt. Und Monica steht neben der Anrichte, wirft arrogant den Kopf hin und her und faltet Kleidungsstücke aus dem Wäschekorb. Die beiden gucken sich nicht einmal an, sie tun so, als sei die andere gar nicht da. Und sie, Gretta, weiß nicht, warum. Sie hat keinen Durchblick mehr, sie weiß nicht einmal, was in ihrer eigenen Familie vorgeht.
»Wir brauchen …«, sagt Monica, allem Anschein nach zur Wand. »Wir brauchen zuallererst einen Schlachtplan.«
»Du solltest deine Haut nicht so bemalen«, sagt Gretta, weiß aber nicht, warum sie gerade das sagt. Denn eigentlich will sie etwas ganz anderes. Sie will, dass jemand ihr sagt, was gespielt wird. Sie will, dass jemand sie bemitleidet (»Du siehst so blass/so traurig aus!«). Und sie will, dass alle ein Einsehen haben und sie endlich schlafen schicken. Stattdessen sagt sie: »Du holst dir noch eine Blutvergiftung. Ich kannte mal einen Jungen …«
»… der ist elendig an einer Blutvergiftung gestorben, weil er sich etwas auf seine Haut gemalt hat«, kommt ihr Aoife zuvor. »Die Geschichte kenne ich schon. Du hast sie mir schon tausendmal erzählt. Ist aber totaler Scheiß.«
»Aoife, ich will in meinem Haus solche Wörter nicht hören.«
»Einen Schlachtplan«, sagt Monica.
Gretta hat langsam die Faxen dicke. Euer Vater ist weg, möchte sie schreien, und ihr benehmt euch wie die letzten Menschen. Gibt es eigentlich nichts Wichtigeres als eure ewigen Streitereien?
»Nicht solche Wörter?«, sagt Michael Francis nach hinten. »Welche dann? Im Übrigen hat die Polizei gesagt, wir können erst einmal gar nichts tun – außer abwarten.«
»Man kriegt von Tinte keine Blutvergiftung, das ist Schwachsinn.«
Aoife springt so schnell hoch, dass der Sessel mit einem kreischenden Geräusch nach hinten schrappt. Michael Francis, schon immer empfindlich, hält sich die Ohren zu.
»Da bin ich anderer Meinung«, sagt Monica und strafft einen Kopfkissenbezug, dass es knallt. »Wir können sehr wohl etwas tun. Erst einmal können wir alle anrufen, die ihn kennen. Dann können wir den Spuren nachgehen, die wir haben. Es sind einige, ich habe sie heute Morgen einmal aufgelistet.«
Aoife steht unschlüssig herum, misstrauisch beäugt von Gretta. Sie besieht sich ihre mit unleserlichen Buchstaben beschmierten Hände.
»Ich muss mal telefonieren«, sagt sie und geht einfach aus dem Zimmer, nicht anders als früher. Gretta ist über die patzige Reaktion fast erfreut. Aoife, die beleidigte Leberwurst. Endlich einmal etwas, das sie kennt. Schön, dass sich manche Dinge nie ändern.
»Du kannst das Telefon im Flur benutzen«, sagt Gretta. »Dafür ist es da.«
»Ich muss aber in New York anrufen, ich gehe zur Telefonzelle.« An der Tür dreht sie sich noch einmal um. »Weiß jemand von euch, ob die Bücherei offen hat?«
Die drei anderen starren sie nur an.
»Die Bücherei? Was willst du denn in der Bücherei?«, ruft Gretta.
»Ich suche ein Buch.«
»Dass du da keinen Sack Kartoffeln kaufen willst, ist mir klar. Was für ein Buch?«
»Egal. Ein Buch eben.«
»Und wen willst du anrufen?«
Und schon macht Aoife wieder dieses Gesicht, das alle so gut kennen: Mischt euch nicht in mein Leben ein, ich weiß, was ich tue. »Ist doch egal«, sagt sie abermals.
»Jetzt sag schon«, erwidert Gretta. »Ist da ein Mann in New York?« Sie zwinkert Michael Francis zu, der nicht darauf eingeht, der alte Miesepeter. »Und den willst du jetzt anrufen?«
Aoife antwortet nicht, sondern blickt nur unglücklich auf das Tischtuch, das Monica gerade faltet.
»Hatte ich doch recht: ein Mann.« Gretta lässt nicht locker. »Aber schläft er nicht um diese Zeit?«
»Nein«, murmelt Aoife und wirft einen Blick auf die Wanduhr über dem Fenster. »Es ist jetzt etwa acht Uhr früh dort.«
»Dann ist er sicher in der Arbeit.«
»Hmmm«, sagt Aoife, durchsucht
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