Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Tante.
Gerade, als er sich den Mund vollgestopft hat, erscheint Aoife in der Tür. Sie hat die Haare zurückgesteckt, wodurch ihre zarte Halspartie freiliegt. Der Anblick rührt ihn mehr, als er sagen kann. Sie aber wirft nur einen Blick auf die geplünderte Sandwichplatte und zieht sich wortlos zurück.
Zwischendurch ist das Wohnzimmer proppenvoll mit Freunden und Verwandten. Und Leuten, die er zwar von irgendwo her kennt, aber nicht einordnen kann. Er will jetzt eigentlich mit niemandem reden, kann auch ihre mitleidigen Blicke nicht ertragen und ihre Beileidsbekundungen erst recht nicht. Im Bekanntenkreis seiner Mutter ist er im Nachteil: Sie alle wissen, wer er ist, wissen vielleicht mehr, als ihm recht ist, nur er erinnert sich an keinen von ihnen. Nachbarn? Leute aus der Kirchengemeinde? Wahrscheinlich alles zusammen. Die Nachricht hat die Runde gemacht, und hier sind sie mit ihren diffusen Hilfsangeboten. Warum verschwinden diese Leute nicht und lassen uns in Ruhe, wir kommen schon zurecht. Er müsste jetzt dringend mit Aoife reden, auch mit seiner Mutter, um eine Strategie zu entwickeln. Er weiß nicht genau, wo er anfangen soll, aber ein erster Schritt wäre, diese Leute rauszuschmeißen, denn sie stehen bloß im Weg, pflanzen sich überall hin und wollen zum Dank auch noch bespaßt werden. Wie hält seine Mutter das aus?
Er wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Zumindest sind es nicht so viele, wie er befürchtet hat. Da ist Bridie mit Gemahl, Bridies Tochter mit Baby, dazu kommen ein paar zittrige alte Säcke. Aber warum erscheinen sie alle zur selben Zeit? Gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, die Familie einer vermissten Person um Punkt zehn Uhr dreißig am Morgen heimzusuchen?
Bridie geht herum und bietet Schnittchen an. Wieder mit Streichwurst oder mal was anderes? Sie spricht jeden Gast freundlich, aber mit dem gebotenen Ernst an. Ja, murmelt sie, eine schlimme Sache. Nein, sie kriegt kein Auge mehr zu. Wer hätte das von ihm gedacht? Nein, überhaupt nicht, kein einziges Wort, urplötzlich war er weg. Die Polizei ist auch keine Hilfe. Noch ein Schnittchen?
Bridie ist das absolute Gegenteil von Gretta, denkt Michael Francis. Allein wenn man sieht, wie sie Aoife begrüßt. (Gut siehst du aus, Kind!) Auf den ersten Blick hielte sie niemand für Schwestern. Zwar ist Bridie nicht größer als Gretta, sie wirkt aber zierlicher und jugendlicher, obwohl sie drei Jahre älter ist. »Gepflegte Erscheinung« beschreibt es ganz gut, denkt er. Jede Wette, sie achtet auf ihre Ernährung und geht einmal die Woche zum Friseur. Graue Haare kommen für sie nicht in Frage, sie trägt Aschblond, die Farbe des reifen Weizens, und keine Strähne hängt ihr ins Gesicht. Ähnlich ordentlich sieht es in ihrem Haus aus. Nippeskram auf der Fensterbank. Und wenn es Tee gibt, dann in Tassen, die wirklich zu den Untertassen passen. Als Kind hat er sich oft gewünscht, bei seiner Tante zu leben.
Noch einmal bedient er sich von der Sandwich-Platte. Ein, zwei Sandwiches mehr können nicht schaden, dann soll aber Schluss sein. Leider fällt ihm dabei das Sandwich zu Boden. Genauer gesagt, erst klatscht es gegen seinen Schuh und verschwindet dann irgendwo hinter dem Mülleimer.
Ihn wundert sein Missgeschick nicht. Überhaupt ist Missgeschick das passende Wort für seine gegenwärtige Situation. Hier ist ein Mann, den seine Frau nur noch wie ein Scheusal behandelt, ein Mann, dessen Familie langsam in die Binsen geht, ein Mann, der von Hitze, Trockenheit und Wassermangel gequält wird, ein Mann, dessen Vater abgehauen ist. Hier ist …
Ächzend kraucht er auf dem Boden herum und späht in die Dunkelheit unter dem Küchenschrank. Dabei entdeckt er ein vergammeltes, halb mumifiziertes Würstchen, den Verschlussring einer Getränkedose, ein Röllchen Nähgarn und eine einzelne vertrocknete gebackene Bohne. Wie halten es seine Eltern in diesem Dreck aus? Ein Wunder, dass sie nicht dauernd Durchfall haben. Oder Cholera. Dann erspäht er die helle Seite des Sandwichs und zieht es ans Licht, obwohl ihm der Appetit gründlich vergangen ist. Aber irgendetwas ist an der Butterseite kleben geblieben. Ein Zettel. Er trennt Zettel und Sandwich und besieht sich seinen Fund.
Der Zettel ist gefaltet, an den Ecken angerissen, doch es klebt noch der Rest eines Umschlags daran, sogar die Briefmarke mit Harfe ist teilweise erhalten. Michael Francis schlägt den Zettel auf und sieht Folgendes: und sie sagen auch, das Ende ist nah. Das Ganze in blauer
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