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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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verschwieg: dass sie im engeren Sinn nicht sonderlich attraktiv war oder die klassische Femme fatale, die problemlos die Ehe des Fachbereichsleiters Geschichte zerstören konnte. Schließlich verstand Michael Francis sich als guter Ehemann, Vater zweier Kinder, als Familienmensch durch und durch. Sie war hochgewachsen, aber sie hatte ihre Glieder nie ganz unter Kontrolle. Sie hatte helle, sommersprossige Haut. Sie erinnerte Michael Francis eher an eine Giraffe. Ihre Ärmel waren zu kurz, endeten meist schon vor dem Handgelenk. Ihre Füße waren zu groß und steckten in Sandalen, die eher zu einem Kind passten. Sie trug Hosenröcke und Pullis, die aussahen wie selbstgestrickt, und Haarreifen, die ihre schlecht geschnittenen Haare im Zaum hielten. Es waren genau die Klamotten, die vor einer Schulklasse schlecht ankamen und hämisch kommentiert wurden. Er konnte Aoife nicht erzählen, wie er, unter irgendeinem Vorwand, in den Chemiesaal gegangen war, um sie einmal allein anzutreffen, nicht in der verqualmten Langweile des Lehrerzimmers. Wohlgemerkt, nur um sie zu sehen: gucken, nicht anfassen. Und wie sie da in ihrem weißen, zu kurzen Kittel hinter der Tafel hervorkam, auf dem der Kohlenstoffzyklus zu sehen war, und sofort rot wurde. Und wie er dachte: Rotstoffzyklus. Fast hätte er es sogar laut gesagt. Der Rotstoffzyklus entsprang auf ihrem Gesicht und führte, leicht zeitversetzt, bei ihm zur selben Reaktion.
    Stattdessen hält er sich an die nackten Fakten. Dass er sich in eine Kollegin verliebt hatte und sie sich in ihn. Dass sie meistens im Chemiesaal hinter dem Abzugsschrank ihr Mittagessen verzehrten. Dass sie zuweilen gemeinsam die U-Bahn nahmen, bis zur Tottenham Court Road, wo sie umsteigen musste. Und dass Claire dahintergekommen und Gina inzwischen wieder in Australien war. Und dass Claire aus Rache selbst wieder studiert, dauernd weg ist und zu Hause alle möglichen Leute anschleppt.
    Was er ihr ebenfalls nicht erzählt: dass er sich selbst heute noch, anderthalb Jahre später, öfter an diesem Abzugsschrank aufhält. Dass er einmal sogar diesen Kittel in die Hand genommen hat. Und dass er es nicht aushielt, wie jemand anderes die Tasse mit dem Ayers Rock benutzte und er sie daher ganz aus dem Lehrerzimmer entfernte. Sie liegt übrigens immer noch in seiner Schublade. Er verschweigt ihr das alles, nicht weil sie es nicht wissen darf, sondern weil er weiß, dass sie solche Details schon von sich aus einfügt.
    Als er fertig ist, kommt es ihm vor, als habe er eine Ewigkeit geredet. Hinter ihm raucht Aoife auf dem Bett, und er fürchtet, das könnte Gretta auf den Plan rufen. Seit sie selber nicht mehr raucht, ist es auch für alle anderen verboten.
    Er hört, wie seine Schwester inhaliert und blickte der auf steigenden Rauchwolke nach. Er räuspert sich. »Jetzt sag schon was.«
    »Und was, bitte?«
    »Irgendetwas.«
    »Okay. Was war, als Claire dahinterkam?«
    »Tja, das war …« Er drückt sein Gesicht gegen den Flor des Teppichs und atmet den ganzen alten Dreck ein, mikroskopische Lagen aus Staub und Vergangenheit aus dem früheren Leben seiner Schwestern. Gut möglich, dass sich sogar noch Reste von Babyhaaren dort finden, Flusen von Kinderpullis, jugendliche Hautreste, abgeschnittene Fingernägel, Nagel haut, Haarspliss. »… furchtbar, einfach nur furchtbar. Es war das Schlimmste, was ich je erlebt habe.«
    Aber wenn die Klassenfahrt nicht gewesen wäre, hätte sich noch alles geregelt. Nichts, rein gar nichts wäre passiert, und sein Leben wäre schön in der Spur geblieben. Doch ein paar Tage vor der alljährlichen Klassenfahrt der Oberstufe zu den Schlachtfeldern an der Somme hatte ihn der Direktor zu sich gerufen.
    Die Lehrkraft, die normalerweise mitfuhr, eine kettenrauchende ältere Geographielehrerin, musste im Krankenhaus ein paar »Tests« machen lassen. Weil der Direktor dabei rot wurde und mit einem Briefbeschwerer spielte, war für Michael Francis nicht allzu schwer zu erraten, dass es sich dabei um gynäkologische Untersuchungen handelte, mit diversen Abstrichen und der Entnahme von Blut und anderen Körperflüssigkeiten an unaussprechlichen Stellen. Aber halb so schlimm, meinte der Direx, denn er habe da eine tolle Idee: Sollte doch die neue Biolehrerin einspringen. War wahr scheinlich noch nie in Frankreich, gefällt ihr bestimmt. Die Aussies reisen doch gern, oder?
    Sie nahmen die Fähre. Nur drei Schüler hatten sich krankgemeldet, ein Fortschritt im Vergleich zum letzten Jahr. Im

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