Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
all dem Theater war so ein Rachenputzer genau das Richtige. Von ihr war doch überhaupt nicht die Rede, oder?
Wie auch immer, sie reichte ihm ihre Hand.
Eine verblüffend kleine Hand, wie er sofort feststellte. Definitiv schmaler als die Hand von – diesen Gedanken ließ er gerade noch zu, aber nicht mehr – als die Hand von Claire. Aber diese Hand kam zu ihm wie durch den unendlichen Weltraum und offenbarte ihm, wie falsch er in der Einschätzung seiner eigenen Person lag. Er, der vermeintliche Familienmensch, der Vater und Ehemann, der Lehrer, der, anders als ein paar Kollegen, die er jetzt nennen könnte, nie auf die schlanken Beine vierzehnjähriger Schülerinnen starrte, er, der nie auf die schmachtenden Blicke bestimmter frühreifer Früchtchen reagierte, sich nicht an Intrigen beteiligte, keine Affären anfing, im Gegenteil, ein Mann, der zu seinem Wort stand und der das Mädchen, das er dummerweise zu Beginn seines Promotionsstudiengangs gevögelt hatte, zu einer ehrbaren Frau machte und dafür seinen Lebenstraum von einer akademischen Karriere an die Wand fuhr, er, der eben nicht alles hinter sich gelassen hatte und nach Amerika abgehauen war, sondern einer, der seiner Frau bei der Hausarbeit half, der wusch und tröstete und fütterte und den Laden am Laufen hielt, ein Mann, der mit seiner Mutter regelmäßig zur Kirche fuhr, ein Mann, der Geburtstagskarten verschickte, Geschenke besorgte und zu Weihnachten den Truthahn tranchierte, kurz und gut, ein rundum anständiger Mann, ja, das war er, ein guter Mensch, das wusste er, doch eben nur so lange, bis er jenseits von so viel Anständigkeit, Pflichtgefühl und Gewissenhaftigkeit auf etwas völlig Neues stieß.
Er erwachte im Morgengrauen. Das Fenster war immer noch offen, aber die Außenwelt wieder das Nichts, das es gewesen war: grau, feucht, mit schimpfenden Vögeln und Wolken lästiger Insekten. Er wühlte sich aus den Laken, kletterte aus der engen Koje. Blitzschnell evaluierte er die Situation und überschlug den angerichteten Schaden. Als Erstes musste er hier raus und schnellstens auf sein Zimmer, und zwar ohne dass ihn jemand sah. Was geschehen war, war geschehen, aber warum in Gottes Namen hatte er es zugelassen? Er klaubte sich seine Klamotten vom Fußboden. Alles wird gut, sagte er sich und kam schon nicht in sein Hosenbein, denn das Polyesterzeug haftete statisch aneinander. Egal, alles wird gut. Das heißt, solange er nicht in Panik geriet. Wer Angst hat, stirbt: alte Pfadfinderweisheit. Also erst einmal Ruhe und kühlen Kopf bewahren. Und bloß keine Panik. Alles wird gut, alles ließ sich regeln. Wenn er erst einmal hier raus war, hatte er schon halb gewonnen. Claire würde nie dahinterkommen, weil er ihr nämlich nichts sagen würde. Ein Ausrutscher, der in dieser Form nie wieder passieren sollte. Und wenn Claire keine Ahnung hatte, blieb alles beim Alten. Eine Geschichte ohne böse Folgen. Er würde mit Gina reden, und Gina würde verstehen. Immerhin wusste sie, dass er verheiratet war, hatte es von Anfang an gewusst, auch gestern Nacht, als sie zu ihm ins Bett schlüpfte, ihm das Pyjamahemd über den Kopf zog. Claire würde nie erfahren, was vorgefallen war. Ein Anfall von Wahnsinn, aber er war vorbei.
Er drückte die Klinke nieder, steckte seinen Kopf in den Flur. Nichts. Kein Schwein da. Der Flur menschenleer. Glück gehabt. Ihm erschien es als gutes Omen, dass es auch so weitergehen würde. Er würde nach Hause zurückkehren und diese dumme Geschichte hinter sich lassen. Erneut wäre er wieder der Mustergatte und perfekte Vater, und diesmal sogar für immer. Claire würde nie etwas erfahren.
Aber dem Glück macht man keine Vorschriften. Wer konnte ahnen, dass genau in dem Moment, als er den Frosch aus Ginas Bett beförderte, Hughie aufs Klo gehen wollte? Und dass er dabei auf einem Spielzeugauto ausrutschte, das er vor der Treppe hatte liegen lassen. Hatte ihnen Claire nicht tausendmal gesagt, ihren verdammten Kram wegzuräumen, besonders vor der Treppe? So nahm das Unglück seinen Lauf. Hughie rasselte mit dem Kopf gegen das Geländer und musste mitten in der Nacht ins Krankenhaus, wo seine Stirn mit acht Stichen genäht wurde. Wer konnte denn ahnen, dass Claire einmal Anlass hatte, diese blöde Notfallnummer zu wählen, die er nun schon seit neun Jahren an der Kühlschranktür hinterließ. Leichter zu erahnen sind da schon die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, als sie, mit zwei heulenden Kindern im Schlepptau, am
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