Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
der Bücherei hatte sie noch gar nicht gewusst, was sie wirklich wollte, und steuerte deshalb erst die Kinderabteilung an, weil sie sich vor den Regalen mit Kinderbüchern und den kindlichen Wandmalereien von Comicfiguren am wohlsten fühlte. Aber dann fiel ihr Blick auf ein Regal, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dort standen die großformatigen Koch- und Bastel- und Handarbeitsbücher, und dazwischen wiederum befand sich dieses Buch, und dort stand alles drin. Angefangen bei William Henry Fox Talbot und seinen Kalotypien bis hin zu den jüngsten Entwicklungen in der Fotografie, unter anderem Evelyn. Sie kam als Vorletzte. Eine von ganz wenigen Frauen.
Zu sehen waren sechs Fotografien von ihr, nicht einmal ihre bekanntesten und alle aus der Zeit vor Aoife. Eine davon hatte sie schon einmal in einer Ausstellung in London gesehen, achtzehn oder neunzehn war sie da und konnte nicht wissen, dass sie eines Tages für diese Frau arbeiten, dass sie ihre Bilder entwickeln, Kontaktabzüge herstellen und die Beleuchtung einrichten würde. Komisch, welche Stolperdrähte das Leben aufstellt, und man hat keine Ahnung, was sie bedeuten.
Sich hier in ihrem alten Zimmer Evelyns Werk anzusehen hat etwas eigenartig Beruhigendes. Aoife streicht mit der Hand über eine Doppelseite: Dort ist ein Mann mit einem Feuermal, das sich über eine ganze Gesichtshälfte erstreckt. Der Mann hält einen toten Fisch in die Kamera. Ein anderes Bild zeigt eine Frau, die im Unterrock auf der Motorhaube eines zerbeulten Autos sitzt, im Hintergrund ein endloser Gleisstrang. Und immer legt sie die Hand auf diese Bilder und weiß, sie muss hier nicht bleiben. Ihr Leben spielt woanders, hier in London fühlt sie sich nach wie vor wie eingesperrt, ohne Aussicht auf jede Besserung. Deswegen ist sie ja gegangen.
Sie schaut sich gerade die Bilder des Fotografen an, der vor Evelyn kommt, als die Tür aufgeht und Michael Francis einlässt.
Er sieht sie nicht an, er sagt nichts, er legt sich nur mühsam bäuchlings auf den Boden.
Aoife blättert weiter, denn die Arbeiten dieses Fotografen hasst sie. Sie hasst sogar den Mann selbst; sie ist ihm schon einmal begegnet, ein eitles Schwein. Sie schaut auf die lange Gestalt am Boden. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragt sie.
»Mmmmnnng«, lautet die diffuse Antwort.
Er presst sein Gesicht in den Flickenteppich des ehemaligen Mädchenzimmers, und es gibt im Augenblick keinen besseren Ort für ihn. Die Dielen sind schön warm, seine Beine leicht gespreizt, die Augen sind zu, und seine Wange liegt auf einer bunten, handgemachten Wiese. Waren es nicht Monica und seine Mutter, die diesen Teppich eines Winters genäht haben? Für eine Sekunde glaubt er sich zu erinnern, sieht den Küchentisch voller Stoffreste, doch das Bild erlischt sofort wieder. Er weiß nicht, ob es so war oder nicht.
»Kann ich nicht ewig hier liegen bleiben?«, fragt er mit angenehm wollgedämpfter Stimme.
Er hört, wie seine Schwester weiterblättert und mit der Hand über die Seite streicht. »Das kannst du natürlich tun«, sagt sie mit ihrer Ich-will-jetzt-nicht-gestört-werden-Stimme. »Rein theoretisch. Aber ohne etwas zu trinken, stirbst du binnen zwei Tagen. Bei dieser Hitze auch früher.«
Er bedeckt die Augen mit der Hand. Im Zimmer darunter hört er jemanden – Monica? Draußen fährt ein Auto vorbei. Aoife blättert in ihrem Buch. Unten schlägt die Teekanne gegen die Spüle.
»Ich habe etwas getan«, sagt er.
Seine Augen sind immer noch geschlossen, aber er spürt Aoifes Blick auf sich. Wie erhofft legt sie das Buch zur Seite, und die Federkernmatratze ächzt unter der geänderten Belastung.
»Hat es mit Dad zu tun?«
»Nein.«
»Okay. Handelt es sich um etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«
»Eher um etwas Schlechtes.«
Schweigen. Ein paar Gärten weiter schreit jemand nach einem Liegestuhl, einem Hut und nach noch etwas, das er nicht finden kann.
»Ärger bei der Arbeit? Mit Claire?«
»Letzteres.«
»Ah.«
In diesem kurzen Ausruf liegt aber so viel Weisheit und so wenig Wertung, dass er gar nicht anders kann, als ihr alles zu erzählen – zumindest das, was ihm möglich ist. Nicht mög lich ist zum Beispiel das mit Gina Mayhew, und dass er vom ersten Augenblick an den Eindruck gehabt hatte, schon sein ganzes Leben lang auf sie gewartet zu haben. Da bist du ja, hätte er beinahe gesagt, wo bist du so lange geblieben? Aber er hatte ja auch nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Was er Aoife ebenfalls
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