Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
Bus saßen er und Gina Mayhew noch getrennt. Sie sah während der ganzen Fahrt aus dem Fenster und hatte ihre Tasche, ein rote Lederbox mit Tragegurt, wie ein Hündchen auf dem Schoß. Sie hatten, wie er es nannte, ein freundschaftliches Verhältnis, mehr nicht. Der Ausdruck blitzsauberes Verhältnis traf es aber eher. Peinlich vermieden sie jeden Augenkontakt und sprachen nur das Nötigste und immer im Beisein ihrer Schüler. Sie redete ihn mit Mr Riordan an. Sie sorgte für Licht aus bei den Mädchen, er bei den Jungen. Dass es nur Fassade war, merkte niemand.
    Nach dem ersten Tag blickte er deshalb zuversichtlich in die Zukunft. Sie verhielten sich wie echte Profis, sie waren ein Team, sie waren zwei Lehrer, die eine Klassenfahrt beaufsichtigten, das war alles. Was immer zwischen ihnen war, es blieb folgenlos. So gesehen standen die Zeichen gut, dass es auch so weitergehen würde.
    Sie besichtigten die alten Schützengräben, die Schlachtfelder, sie besuchten die Soldatenfriedhöfe, und nur ein einziges Mal musste er jemanden in den Minibus verbannen. Er verteilte Stifte und Arbeitsblätter, er hielt einen Kurzvortrag über den Stellungskrieg als solchen, er wies auf die topographischen Gegebenheiten hin, die deutschen Stellungen lagen höher als die der englischen Einheiten. Er zeigte ihnen ein Flurstück, auf dem 57 000 Soldaten gefallen waren – an einem einzigen Tag.
    »Schreibt euch das auf«, sagte er. »57 000 Mann, die meisten davon …«
    »… nicht viel älter als ihr«, platzte Gina dazwischen.
    Von seinem Aussichtspunkt, einer rekonstruierten Schützengrabenleiter, die direkt ins Niemandsland führte, sah er Gina. Sie stand ganz hinten in der Gruppe, trug eine gelbe Regenjacke über ihren Shorts, auf der kleine Löwen am Saum eingestickt waren. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferde schwanz gebunden, und an ihrem Hals hing ein Feldstecher. Ihm war nicht klar gewesen, dass sie zugehört hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie lediglich ihrer Anwesenheits pflicht nachkam und ansonsten ihren eigenen Gedanken nachhing. Woran denkt man auf einem ehemaligen Schlachtfeld, an die rote Erde im australischen Outback? An den menschlichen Blutkreislauf mit seinen Verästelungen, die als Zeichnung stark an das Schnittmuster für einen Hosenanzug erinnerten? Wer wusste schon, woran sie dachte, als er, wie nun schon seit zehn Jahren, die alte Leier von Gestellungsbefehl und Dosenfleisch abspulte.
    Denn sie wurde sofort rot, als sich ihre Blicke trafen. Wieder stieg ihr vom Hals aus diese Röte in die Wangen. Er zwang sich wegzusehen und sich stattdessen auf seine Notizen zu konzentrieren, um nicht den Faden zu verlieren.
    »Nun«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Weiß jemand, wie es mit der Bewaffnung der Soldaten aussah?«
    In der folgenden Nacht riss ihn ein Hämmern an der Tür aus dem traumlosen Schlaf in seinem Lehrer-Einzelzimmer. Er kraxelte aus dem Bett, öffnete, und vor ihm stand Gina Mayhew in ihrem geblümten kurzen Pyjama. Ihre nackten Beine schimmerten im Neonlicht.
    »Oh«, sagte er. »Gina? Ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige …«
    Aber sie ging bereits voraus. »Kommen Sie, schnell«, sagte sie.
    Traditionsgemäß hatten sich die Schüler auch in diesem Jahr Alkohol beschafft und machten Party im Mädchenschlafsaal. Und genau wie in den Jahren zuvor standen die Lehrer (er und Gina) überrascht in der Tür und guckten blöd. Fünf Schüler waren betrunken, einer davon schwer, vier waren halb nackt, zwei waren am Knutschen, drei waren am Kotzen oder sahen zumindest so aus, als stünden sie kurz davor. Die nächste halbe Stunde verbrachten sie mit Reinigungsarbeiten und pädagogischen Maßnahmen wie Zur-Sau-machen, Geschlechter-trennen, Konterbande-konfiszieren. Gina sorgte dafür, dass die Mädchen sich wieder anzogen – er sah züchtig weg –, und schickte sie ins Bett. Er eskortierte die Jungen in ihren Schlafsaal und knallte die Tür zu. Erst dann konnten sie selber zurück.
    Den Arm voller beschlagnahmter Wodkaflaschen stand Gina auf dem Flur.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er, ohne sie direkt anzusehen. Zwanghaft wanderte sein Blick über Wände, Türklinken, sogar den Fußboden, denn die blassen, sommersprossigen Beine in den kurzen Pyjamahosen verunsicherten ihn.
    »Ja«, flüsterte sie. »Endlich ist Ruhe.«
    »Na wunderbar«, sagte er und hob mehrmals unschlüssig die Arme, als sei es für jeden Fluchtversuch schon zu spät. »Dann können wir ja auch wieder …«
    »Haben Sie

Weitere Kostenlose Bücher