Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
nicht manchmal den Eindruck …«, begann sie und legte den Kopf in den Nacken, als gäbe es an der Decke etwas zu sehen.
Endlich sah er sie an, wobei ihm auffiel, dass er es sonst fast immer vermied. Es ging einfach nicht. Denn sobald er es tat, verlor er jeden Maßstab, wie lange er diese Frau anständigerweise ansehen durfte. Also lieber kein Risiko eingehen. Aber jetzt sah er die langen Halssehnen, das kleine Grübchen oberhalb der Lippe, die rötlichen Wimpern.
»Haben Sie nicht manchmal den Eindruck, Sie sind im falschen Job?«
Dauernd, wollte er sagen, ich denke überhaupt nichts anderes. Eigentlich sollte ich meinen Doktor machen, in Berkeley, am Williams College, an der NYU, und nicht in irgendeiner französischen Jugendherberge die Kotze von besoffenen Jugendlichen aufwischen.
Stattdessen sagte er: »Haben Sie denn diesen Eindruck? In Ihrem Fall würde ich mir darüber keine Gedanken machen. Das passt schon, ich habe gesehen, wie Sie mit den Kindern umgehen. Sie sind wirklich gut.«
»Nein.«
»Doch, sind Sie. An alles andere gewöhnen Sie sich. Das erste Jahr ist immer das schwerste. Aber irgendwann können Sie gar nicht mehr anders.« Er hob die Hand, und ehe er wusste, was er tat, tätschelte er ihr die Schulter.
Ein Fehler, wie sich zeigte, denn Tränen quollen aus ihren Augen, Tränen, die sie nicht wegwischen konnte, weil sie beide Hände voller Flaschen hatte.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Ist schon okay, es ist …«
»Es ist nur …« Die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es ist nur, sie haben mir einen Frosch ins Bett getan.«
Er ließ die Hand sinken. »Was?«
»Ich hasse Frösche, wirklich, ich hasse sie. Ich habe sonst nichts gegen Tiere, aber Frösche … lebende Frösche … sie sind so … ich kann sie nicht anfassen, ich bring das nicht über mich.«
Da sie zugleich immer lauter wurde, nahm er sie am Arm und brachte sie auf ihr Zimmer.
Auch das noch reine Hilfeleistung unter Kollegen, beruhigte ihn die klare Stimme seines Gewissens. Nicht anders, als nähme er Vita oder Hughie, wenn sie schlecht geträumt hatten. Er würde den Frosch entfernen, sonst nichts, würde eine gute Nacht wünschen und gehen. Einfacher ging es nicht. Also alles im grünen Bereich. Das sagte er sich auch noch, als er die Decke zurückschlug und großen Wert darauf legte, ihren Duft nicht einzuatmen, während sie so nah hinter ihm stand. Der Frosch war übrigens ein kleines keilförmiges Etwas, das die Beine angstvoll unter den Körper gezogen hatte und absolut harmlos aussah. Und er tat ganz bestimmt das einzig Richtige, wenn er ihr hier aus der Patsche half.
Er nahm den Frosch in beide Hände, und der Frosch hüpfte darin ganz wie ein kleines menschliches Herz.
»Können Sie mal das Fenster aufmachen?«, fragte er.
Nichts, das Gina lieber getan hätte. Das Fenster ging auf, und er lehnte sich hinaus in die Nacht. Und ehe er den Frosch in die Freiheit entließ, empfand er selbst diese ungeheure Andersartigkeit der Außenwelt, wo es kein Licht mehr gab, sondern nur die Geräusche von Heuschrecken, Vögeln und unsichtbarem Getier. Ihm schien auf einmal, als habe er schon viel zu lange in geschlossenen Räumen wie dieser elenden Jugendherberge zugebracht. Nichts als grelles Neonlicht, holzverkleidete Wände, Duschen, wo die Spinnweben von der Decke hingen, laut hallende Speisesäle, schmale Betten und schreiende Kinder. Doch da draußen in der sternglänzenden samtenen Dunkelheit fächelte ihn die laue Sommernacht an, deren geheimnisvollen Laute ihn ganz in ihren Bann schlugen.
Er öffnete die Hände, und der Frosch plumpste mit einem satten Geräusch ins Unterholz. Michael Francis hörte, wie er kurz seine langen Beine sortierte und sich dann davonmachte. Noch einmal sog er diese laue Luft ein, ein letzter Blick in die Dunkelheit, dann war er wieder im Zimmer.
Doch es schien, als sei etwas von dieser Zaubernacht auch in das Zimmer eingedrungen. Gina stand immer noch da in ihrer kurzen Pyjamahose, doch sie hatte eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit in der Hand.
»Nicht gucken«, sagte sie mit einem kurzen Lacher, führte die Flasche an die Lippen und ließ sich ihren Inhalt durch die Kehle rinnen.
Sie hustete, lächelte und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Tut mir leid, aber das brauchte ich jetzt.«
»Schon gut«, sagte er und streckte ebenfalls die Hand aus.
Ob sie ihn absichtlich missverstanden hatte? Natürlich griff er nach der Wodkaflasche, nicht nach ihr, nach
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