Der Sommer, als ich schön wurde
Jahre alt. Aber nicht nur er, ich genauso.
»Ich hab so eine Stinkwut auf sie«, sagte er. Jedes Wort stieß er aus wie einen heißen Luftstrom. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern saß er neben mir, gebrochen. Er weinte. Endlich.
Stumm sah ich ihm zu und fühlte mich dabei wie ein Eindringling. Niemals hätte er mich an diesem ganz privaten Moment teilhaben lassen, wenn er nicht so gelitten hätte. Der alte Conrad hatte gern alles unter Kontrolle.
Immer noch war da der alte Sog, diese Strömung, die mich immer wieder mitriss – die erste Liebe eben. Immer wieder brachte sie mich hierher zurück, zu ihm zurück. Allein schon so nahe bei ihm zu sein nahm mir fast den Atem. Ich hatte mir selbst etwas vorgemacht letzte Nacht, als ich dachte, ich sei frei, als ich dachte, ich hätte ihn losgelassen. Aber er konnte sagen oder tun, was er wollte – ich würde ihn nie loslassen.
Ich überlegte, ob es wohl möglich wäre, einen Menschen mit einem Kuss von seinem Schmerz zu befreien. Denn das war es, was ich wollte, all seine Traurigkeit von ihm zu nehmen, wegzugießen, ihn zu trösten. Den Conrad, den ich kannte, zurückzuholen. Ich streckte eine Hand aus und berührte ihn im Nacken. Er zuckte zusammen, ganz leicht nur, doch ich nahm die Hand nicht weg. Ich ließ sie da liegen, strich ihm über die Haare, dann drehte ich seinen Kopf zu mir und küsste Conrad. Ganz vorsichtig zuerst, aber dann küsste er mich zurück. Seine Lippen waren warm, sehnsüchtig. Er brauchte mich. In meinem Kopf war plötzlich ein gleißendes Licht, und ich hatte nur den einen Gedanken: Ich küsse Conrad Fisher, und er küsst mich zurück. Susannah starb, und ich küsste Conrad.
Er löste sich als Erster. »’tschuldigung«, sagte er, und seine Stimme klang rau und kratzig.
Ich berührte meine Lippen mit den Fingern. »Wofür?« Ich hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen.
»Das geht so nicht.« Er brach ab, begann von Neuem. »Es stimmt, ich denke viel an dich. Das weißt du auch. Aber ich kann einfach nicht … Kannst du … Kannst du einfach hier bei mir sein?«
Ich nickte. Ich hatte Angst, den Mund aufzumachen.
Ich nahm seine Hand und drückte sie, und es fühlte sich wie das Richtigste an, was ich seit Langem getan hatte. Wir saßen im Sand und hielten uns an den Händen, so als wäre das etwas, was wir immer schon getan hatten. Es fing an zu regnen, zunächst nur ganz leicht. Die ersten Tropfen trafen auf den Strand auf, und Sandkörnchen quollen zu Kügelchen auf und rollten davon.
Dann wurde der Regen heftiger, und ich wäre gern aufgestanden und zum Haus zurückgegangen, aber das wollte Conrad nicht, ich spürte es. Also blieb ich bei ihm sitzen, hielt seine Hand und schwieg. Alles andere schien weit weg, außer uns gab es nichts.
44
Das Ende des Sommers schleppte sich dahin, und nach und nach kam das Gefühl auf, dass es jetzt gut sei. Es war wie im Winter, wenn es extrem viel Schnee gab. Einmal, als wir diesen Wahnsinnsblizzard hatten, fiel volle zwei Wochen lang die Schule aus. Nach einer Weile wollten wir bloß noch raus, selbst wenn das bedeutete, zur Schule zu gehen. So ähnlich war es auch mit dem Sommerhaus. Selbst im Paradies konnte man irgendwann das Gefühl haben, keine Luft mehr zu bekommen. Am Strand sitzen und nichts tun, das ging nur eine gewisse Zeit lang, dann reichte es einem. Das spürte ich in der Woche vor unserer Abreise, jedes Mal war es so. Aber wenn der Moment wirklich kam, dann war ich nie zum Aufbruch bereit. Dann wollte ich für immer bleiben, es war eine einzige Zwickmühle, ein Widerspruch in sich. Kaum saßen wir im Auto und fuhren los, da wollte ich nur noch rausspringen und zum Haus zurückrennen.
Cam rief mich zweimal an. Beide Male ging ich nicht dran. Beim ersten Mal hinterließ er mir keine Nachricht auf der Mailbox. Beim zweiten Mal sagte er: »Hey, ich bin’s, Cam … Ich würde dich gern noch mal sehen, bevor ihr fahrt. Falls es nicht klappt – es war wirklich schön mit dir diesen Sommer. Also, wenn du magst, ruf an.«
Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich liebte Conrad, und das würde wohl auch für alle Zeit so bleiben. Auf die eine oder andere Weise würde ich ihn lieben, solange ich lebte. Vielleicht würde ich heiraten, vielleicht eine Familie haben, aber das würde nichts ändern, denn ein Stück von meinem Herzen, das Stück, in dem der Sommer lebte, würde immer Conrad gehören. Wie sollte ich das Cam erklären? Wie sollte ich ihm sagen, dass es auch ein
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