Der Sommer, als ich schön wurde
Stück gab, das für ihn reserviert war? Er war der Erste, der mir gesagt hatte, dass ich schön sei. Das bedeutete eine Menge. Aber es war mir einfach nicht möglich, Cam all das zu sagen. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel: Ich ließ die Sache auf sich beruhen. Ich rief nicht zurück.
Mit Jeremiah war es einfacher. Er machte es mir einfach, will ich damit sagen. Er ließ mich vom Haken. Er tat so, als wäre nichts gewesen, als hätte es dieses Gespräch zwischen uns da unten im Fernsehzimmer nie gegeben. Er machte weiter seine Witze und nannte mich Belly Button, er war einfach Jeremiah.
Endlich verstand ich Conrad. Ich meine, ich verstand, was er gemeint hatte, als er sagte, er könne damit nicht umgehen – mit mir. Ich konnte es genauso wenig. Das Einzige, was ich wollte, war, jede Sekunde im Haus zu verbringen, bei Susannah. Den letzten Tropfen dieses Sommers aufzusaugen und mir vorzumachen, er sei wie all die Sommer davor. Mehr wollte ich nicht.
45
Der Tag vor unserem Aufbruch war immer mein Hasstag, denn da war Großreinemachen angesagt. Als wir noch klein waren, durften wir an dem Tag nicht mehr zum Strand, damit wir keinen neuen Sand mehr ins Haus brachten. Die Bettwäsche wurde gewaschen, der Kühlschrank ausgeräumt, die Böden wurden gefegt, Surfbretter und Schwimmwesten im Keller verstaut und die Sandwiches für die Rückfahrt eingepackt. An diesem Tag übernahm stets meine Mutter das Kommando. Sie war diejenige, die darauf bestand, dass alles genau so gemacht wurde. »Damit alles schon fertig ist für den nächsten Sommer«, pflegte sie zu sagen. Sie hatte keine Ahnung, dass Susannah Putzfrauen bezahlte, die jedes Mal nach unserer Abreise und vor unserer Rückkehr sauber machten.
Ich hatte Susannah einmal dabei ertappt, wie sie am Telefon die Termine ausmachte. Sie legte eine Hand auf den Hörer und flüsterte schuldbewusst: »Sag deiner Mom nichts davon, Belly, okay?«
Ich nickte. Es war so etwas wie ein Geheimnis zwischen uns, das gefiel mir. Meine Mutter machte wirklich gern sauber und hielt gar nichts davon, dass Haushälterinnen oder Hausmädchen oder sonst jemand uns das abnahm, was ihrer Ansicht nach unsere Aufgabe war. »Würdet ihr etwa jemand anderen bitten, euch die Zähne zu putzen oder euch die Schuhe zuzubinden, bloß weil es machbar wäre?« Die Antwort lag auf der Hand.
»Mach dich nicht verrückt wegen des Sands«, flüsterte Susannah mir regelmäßig zu, wenn sie sah, wie ich schon zum dritten Mal den Küchenboden fegte. Ich fegte trotzdem weiter. Ich wusste, was ich von meiner Mutter zu hören bekäme, falls sie doch noch Körnchen unter den Füßen spürte.
Zum Abendessen aßen wir bunt durcheinander alles, was der Kühlschrank noch hergab. Das war Tradition. Meine Mutter schob zwei Tiefkühlpizzen in den Ofen, wärmte Lo-Mein-Nudeln und gebratenen Reis auf und machte einen Salat aus Sellerie und Tomaten. Außerdem gab es noch Muschelsuppe und einen Teller Rippchen und Susannahs Kartoffelsalat, der schon über eine Woche alt war. Es war eine bunte Mischung aus lauter Essensresten, auf die kein Mensch mehr Lust hatte.
Aber wir aßen trotzdem tapfer. Wir saßen um den Küchentisch herum und nahmen uns dies und das von den mit Alufolie abgedeckten Platten. Conrad warf mir die ganze Zeit heimliche Blicke zu, aber wenn ich sie erwiderte, sah er weg. Ich bin da, wollte ich ihm sagen, ich bin noch immer da.
Alle waren wir ausgesprochen wortkarg, bis Jeremiah das Schweigen brach. Es war, als ob jemand seinen Löffel durch die knisternde Karamellschicht einer Crème Brûlée stieß. »Dieser Kartoffelsalat schmeckt irgendwie abgestanden, wie schlechter Atem.«
»Wahrscheinlich kaust du auf deiner eigenen Oberlippe rum«, sagte Conrad.
Wir alle lachten, und ich fühlte mich erleichtert. Weil es okay war zu lachen. Weil man auch etwas anderes sein durfte als traurig.
Dann sagte Conrad: »An diesem Rippchen ist schon Schimmel«, und wir mussten wieder lachten. Es fühlte sich so an, als hätte ich schon lange nicht mehr gelacht.
Meine Mutter verdrehte die Augen. »Das bringt dich ja wohl nicht um, so ein bisschen Schimmel, oder? Kratz es ab. Oder gib’s mir. Ich esse es.«
Conrad hob beide Hände zum Zeichen, dass er sich ergab, dann spießte er das Fleisch mit der Gabel auf und beförderte es feierlich auf den Teller meiner Mutter. »Guten Appetit, Laurel.«
»Wirklich, Beck, du hast die Jungs total verwöhnt«, sagte meine Mutter, und alles fühlte sich wie immer an,
Weitere Kostenlose Bücher