Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
im Innenhof musste sich ein Vogel niedergelassen haben, der jetzt wie wild zwitscherte.
»Morgen Vormittag wollen meine Eltern eine Kirche besichtigen«, sagte sie. »Wir treffen uns um Punkt zehn vor den Grotten. Wir haben ein paar Stunden Zeit, aber nicht mehr.«
Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, ließ es aber bleiben. Ich dankte ihr und ging, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. Am Tag darauf öffnete ich um Viertel vor zehn die Haustür und stand Irene gegenüber.
»Ciao. Reist du ab?«
»Nein, warum?«
»Was ist in dem Rucksack?«
Ich verrenkte mir den Hals, um einen Blick über meine rechte Schulter zu werfen, so als wüsste ich nicht, was ich bei mir hatte. »Nichts Besonderes«, antwortete ich.
»Ist dein Großvater zu Hause?«
»Nein.«
»Echt nicht?«
»Nein.«
Irene lächelte. »Wie bitte?«
»Ich meine, er ist schon zu Hause, aber beschäftigt. Und wenn er arbeitet, will er nicht gestört werden.«
»Rufst du ihn bitte? Ich fürchte, wir reisen nächste Woche ab, und ich weiß nicht, ob ich noch mal herkommen kann.«
In diesem Moment tauchte Großvater hinter mir auf.
»Guten Tag«, sagte er.
»Der alte Simone? Entschuldigen Sie – Signor Coifmann?«
»Ja.«
»Signor Coifmann, ich soll Sie von meiner Schwester grüßen und Ihnen ausrichten, dass sie den Film gesehen hat, von dem Sie ihr erzählt haben. Und dafür möchte sie Ihnen danken. Aber ich habe leider vergessen, wie der Film heißt.«
Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie vor ihm einen Knicks gemacht hätte.
»Wer ist deine Schwester?«
Irene schlug sich vor die Stirn. »Wie dumm von mir! Sie heißt Elena.«
Großvater lächelte. »Dann musst du Irene sein.«
Ihre Wangen röteten sich.
»Und Elena ist nicht da?«
»Nein, sie ist in Afrika.«
»Und macht dort was?«
»Ihr Freund arbeitet ehrenamtlich dort, und sie besucht ihn. Deshalb soll ich Ihnen auch Danke sagen. Für den Film, der ihr irgendetwas klargemacht hat. Ich glaube, es ging um einen Ring.«
Großvater setzte sich auf die Bank und schlug die Beine übereinander. » Frühstück bei Tiffany ?«
Irene flippte aus. »Genau!«, rief sie. »Genau, der war’s!«
»Ich habe ihn ihr empfohlen, damit sie den Ring, den ihr ein junger Mann geschenkt hat, mit anderen Augen sieht. Sie hatte festgestellt, dass er aus einer Chipstüte stammte. Und war zu Tode beleidigt.«
Wahnsinn! Nie hätte ich gedacht, dass Großvater in der Lage sei, jungen Frauen bei Liebeskummer zu helfen. Jetzt schien wirklich alles möglich: dass er ein russischer Spion war, dass er aus dem Klingonenreich kam, dass er zur Justice League gehörte.
»Hört mal, ich muss jetzt gehen«, sagte ich.
»Wohin?«, fragte Großvater. Es war das erste Mal, dass er mich das fragte.
»Ich treffe mich mit Luna und Isacco«, erwiderte ich. »Zu Hause bei Luna.«
»Iole kommt zum Mittagessen. Möchtest du auch hierbleiben, Irene?«
»Gern, ich sage meinen Eltern Bescheid, wenn sie mich abholen.«
»Gut«, meinte er und stand auf, um wieder ins Haus zu gehen. »Amüsiert euch solange!«
Irene umarmte mich strahlend. »Ich bin so froh, ihn kennengelernt zu haben. Und was machen wir jetzt?«
»Und wer ist die?«
Isacco saß im Schneidersitz auf dem Boden. Er warf Steine nach einer leeren Dose, die auf einem Baumstumpf stand.
»Du kommst zu spät«, sagte Luna.
»Zehn Minuten«, erwiderte ich. »Das ist Irene. Irene: Isacco und Luna.«
»Kommst du auch mit?«, fragte Luna. »Ich habe bloß drei Stirnlampen.«
»Nein, keine Sorge«, entgegnete Irene. »Ich setze keinen Fuß in die Grotten. Da sind bestimmt Fledermäuse drin. Ich hasse Fledermäuse.«
Isacco zielte und traf die Dose, die mit einem metallischen Scheppern davonrollte. »Fledermäuse tun nichts«, meinte er. »Also, was ist, gehen wir? Ich habe sieben leere Plastikflaschen dabei, die wir an der Quelle füllen können. Meint ihr, die hilft auch gegen Pickel?«
Luna zog die Helme aus dem PVC -Rucksack, der so groß war, dass Irene hineingepasst hätte. »Außerdem habe ich noch drei Seile, Karabinerhaken, Reservebatterien und zwei Dynamotaschenlampen für den Notfall dabei. Und die hier sind von meiner Mutter. Wir haben mehr oder weniger dieselbe Größe.« Sie trug Wanderstiefel aus Wildleder. Zwei sorgfältig umgeschlagene rote Wollsocken, die ihr bis zur Wadenmitte reichten, lugten daraus hervor.
»Ich konnte keine auftreiben«, sagte Isacco. »Ich habe überall gesucht.« Er warf einen Blick auf die zerfetzten,
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