Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
doch bestimmt irgendein Farbengeschäft geben.«
Am nächsten Tag stiegen wir hinab ins Tal, bis zu einer Ortschaft kurz vor der Autobahnauffahrt. Dort befand sich ein großer Laden für Künstlerbedarf mit Öl und Pinseln, Pigmenten und leeren Tuben, in denen man die Farben aufbewahren konnte. Die Leinwand kauften wir bereits auf Keilrahmen aufgezogen: vier kleine Quadrate (dreißig mal dreißig Zentimeter) und ein großes Rechteck (fünfzig Zentimeter auf einen Meter).
Wir beschlossen, jeder etwas Eigenes auf je zwei kleine Leinwände zu malen und gemeinsam an der großen zu arbeiten.
Am ersten Nachmittag widmeten wir uns den Farben. Wir trugen alles, was wir dazu benötigten, hinaus in den Hof. Es war ein Tag zum Bäumeumarmen: Der Himmel war zyanblau, die Wiesen chromoxidfarben, und die Blumen, deren Namen ich nicht weiß, leuchteten wie flackernde Kerzen. Wir legten die Holzplatte, die Großvater im Keller aufbewahrte – dieselbe, über der er nachts als Schmied schwitzte –, auf zwei Tischböcke. Die Pigmente formten wir zu kleinen Haufen mit einer Kuhle in der Mitte, in das wir Leinöl gossen. Dann schoben wir das Pigmentpulver von den Rändern in die Kuhlenmitte, um das Öl damit zu bedecken. Dabei achteten wir streng darauf, dass es nicht auslief. Anschließend verrührten wir das Ganze so lange, bis die Farbe die richtige Konsistenz erreicht hatte. Das so entstandene Produkt ließ sich entweder sofort benutzen oder in Tuben abfüllen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich, dass man die Tuben von hinten füllt und nicht von vorne beim Schraubverschluss.
Wir entschieden, wofür wir die ersten beiden Leinwände verwenden würden. Meine sollten Silver Surfer zeigen, der mit seiner metallischen, fließenden Gestalt von allen Superhelden am einfachsten zu malen war. Die anderen tragen komplizierte mehrteilige Kostüme. Großvaters Motive würden das Tal mit dem Stausee und dem Damm sein (Nummer eins) sowie ein großer Felsblock hinter der hundert Jahre alten Kastanie (Nummer zwei). Gleich nach dem Aufstehen begannen wir mit der Arbeit. Kind of Blue : Miles Davis’ Trompete ertönte knisternd von der Schallplatte, und Iole traf gegen elf ein.
Am zehnten August hatte Isacco Geburtstag gehabt. Ich habe nie richtig begriffen, wie viele Großeltern, Cousins oder sonstige Verwandte sich um ihn kümmerten; es war auf jeden Fall eine ziemlich chaotische Schar. Sie hatten zu diesem Anlass im Innenhof ein Grillfest mit Fisch, Fleisch und Gemüse organisiert und ihm einen Fernseher mit eingebautem Videorekorder sowie eine Sammlung von Filmen aus den 1980er- und 1990er-Jahren geschenkt – angefangen bei Die Goonies über Edward mit den Scherenhänden und Lethal Weapon bis hin zu Seven . Und obwohl die Hitze nach wie vor zum Baden im See einlud, verbrachten wir die Nachmittage bäuchlings auf dem Parkett liegend in Isaccos Zimmer, während seine Tante Limonade und Eiswürfel in unsere Gläser füllte und geröstetes Brot mit Mascarpone und Kakao bestrich. Doch die Vormittage blieben fürs Malen reserviert. Großvater konnte besser als ich mit dem Pinsel umgehen. Oft setzte ich mich hinter ihn und sah ihm dabei zu.
Zehn Tage später waren seine beiden Bilder fertig. Ich bemühte mich immer noch, den Widerschein des Mondes auf der silbernen Haut einzufangen, die es Silver Surfer erlaubte, die Weiten des Alls auf seinem Surfbrett zu durchqueren. Währenddessen hatte Großvater bereits Blätter und weiße Pusteblumensamen, den See und die Umrisse der Berge, den Felsblock und die üppige Kastanie aufs Papier gebannt. Alles war Verknappung, und die machte die wiedergegebene Welt erst begreiflich.
Jetzt mussten wir nur noch entscheiden, was wir mit der gemeinsamen Leinwand anfangen wollten.
»Du bist der Zeichner«, sagte Großvater.
»Und du der Maler.«
»Also dann zeichnest du, und ich koloriere.«
»Mir gefällt, wie du den Damm und den See gemalt hast. Und die Bäume dahinter.«
»Und ich finde dein metallisches Ding auch nicht schlecht. Die Ölfarben bringen es gut zur Geltung.«
»Ich könnte ihn auf dem See landen lassen.«
»Er könnte einen Meter über dem Wasser dahingleiten, aber so schnell, dass Wellen entstehen.«
»Und einen Schweif aus Wassertropfen und Fontänen hinter sich herziehen.«
»Ich male noch ein Gasthaus unweit der Bäume dazu, einverstanden?«
»Klar.«
»Das Bild nennen wir dann Auberge des deux noms .«
»Gut, aber das kann ich nicht schreiben.«
»Ich schreibe es dir auf«, sagte
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