Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Agata. Während sie stillt, singt sie ein Kinderlied. Ich versuche, mich auf den Bericht zu konzentrieren, den ich übermorgen vor der Geschäftsleitung eines wichtigen Textilherstellers vortragen muss. Ich bin nervös, weil niemand da sein wird, an den ich den Vortrag delegieren kann. Ich bin nervös, obwohl ich es bereits zigmal gemacht habe. Ich lese, und während ich lese, schmelzen die Worte dahin wie Butter, ihre Bedeutung verschwindet. Es gelingt mir nicht, auch nur eines zu fassen zu bekommen.
»Hältst du mal kurz Agata?«, fragt Elena. Sie nimmt das Kind von der Brust und reicht es mir. Ich nehme es, und sie zupft BH und Unterhemd zurecht. »Hör mal, könnte ich kurz baden? Ich hätte wirklich Lust darauf. Zehn Minuten.« Während sie das sagt, macht sie ein Gesicht wie ein geprügelter Hund. Ich liebe Elenas Gesicht, wenn sie aussieht wie ein geprügelter Hund.
»Klar«, sage ich.
»Ich liebe dich, weißt du das?« Sie lächelt.
Elena geht ins Bad und schließt die Tür hinter sich. Ich blättere weiter in meinen Vortragsunterlagen. Sie enthalten Worte wie Führungsqualitäten, Innovation, Entwicklung, Netze, Diagramme, integrierte Plattformen, Analysen, Reputation, Ziele. Ich habe diese Worte selbst geschrieben, und als ich das tat, waren sie klar, eindeutig. Jetzt verstehe ich sie nicht mehr, sie ergeben gar keinen Sinn. Ich leiere sie leise herunter wie eine Liste, die man auswendig lernt, ohne sich zu fragen, warum. Aber sie lösen sich in Luft auf, sobald sie die Zunge verlassen haben. Ich drücke Agata an mich, habe Angst, sie könnte mir herunterfallen. Je öfter ich die Worte wiederhole, desto mehr entgleiten sie mir. Im Bad rauscht Wasser. Elena singt. Ich halte meine Tochter mit beiden Händen, aber sie hört nicht auf, sich mir zu entwinden. Meine Hände bieten keinerlei Widerstand.
»Elena!«, rufe ich.
Sie antwortet nicht.
»Elena!«, rufe ich erneut
»Was ist?«, fragt sie. Sie liegt in der Wanne, das hört man an ihrer belegten Stimme. Der aufgedrehte Wasserhahn sorgt dafür, dass die Temperatur konstant bleibt.
Am liebsten würde ich schreien: »Hilfe, Agata fällt mir herunter.« Stattdessen sage ich: »Nichts, entschuldige.« Aber das stimmt nicht. Ich werde zu einer Hülle, verwandle mich in eine Höhle, ein Gefäß, das den Körper meiner Tochter aufnimmt. Ich fange sie mit den Oberschenkeln auf, beuge mich auf meinem Stuhl vor, werfe mich zu Boden und fange den Sturz mit Gesäß und Hüften ab. An der Teewagenkante stoße ich mir den Ellbogen an. Ein heftiger Schmerz durchzuckt meinen Arm, und mir wird weiß vor Augen. Agata spürt, wie sich meine Muskeln zusammenziehen, und fängt zu weinen an. »Nein, nein, es ist nichts, es geht mir gut«, sage ich und wiege sie mit Bauch und Beinen.
Die Badezimmertür geht auf. Elena kommt im Bademantel heraus und rubbelt sich die Haare mit einem Handtuch trocken. Sie hört auf zu singen und schaut uns an. »Was macht ihr denn da auf dem Boden?«
»Nichts, wir spielen«, sage ich. Mit leblos an mir herabhängenden Armen betrachte ich meine Tochter und lächle sie an: »Stimmt’s, Agata?«
*
Ein Manager der Ferroni-Gruppe, einer wichtigen italienischen Unternehmensberatung, bittet mich um einen Termin. Ich treffe ihn in der Pasticceria Cucchi in Mailand. Ich bin nervös, weil ich nicht weiß, was er will. Das mochte er mir vorher nicht verraten. Wir nehmen an einem Tisch Platz und bestellen zwei Espressi.
»Wir brauchen jemanden wie Sie, Coifmann«, beginnt er.
»Wieso, wie bin ich denn?«, frage ich.
»Jemand, der etwas von Wirtschaftsanalysen, Firmenorganisation und Führungskontrolle versteht. Und genau das tun Sie. Sie wissen sehr gut, dass wir die Nummer eins in Italien sind. Aber wir sind alles Ingenieure und unsere Wirtschaftskenntnisse unterirdisch.« Er lacht, und während er lacht, spritzt Kaffee aus der Tasse auf seine Krawatte. Er gibt der jungen Frau hinter dem Tresen ein Zeichen. »Signorina.«
Sie bringt ein Spray, und er sprüht es auf den Fleck.
Ich überlege, was Elena dazu sagen würde. »Wie ist die Bezahlung?«, frage ich.
Er leiert Zahlen herunter, die am Jahresende weniger ergeben, als ich als Selbständiger verdiene. »Wieso sollte ich Sie unterstützen?«, frage ich.
»Weil wir eine Gruppe sind. Und eine Gruppe bietet ein fantastisches Sicherheitsnetz, wenn Sie verstehen, was ich meine. Machen Sie sich keine Sorgen: Innerhalb von zwei Jahren verdienen Sie genauso gut wie vorher, und in vier Jahren das
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