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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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er. »Hol ein Blatt Papier!«
    Als Tage später eine Wolke die Sonne verdeckte und es so dunkel wurde wie in einer Kathedrale, hielt meine Mutter mit dem Auto vor dem großen Felsblock. Habe ich eigentlich schon erwähnt, welches Auto wir damals hatten? Einen grünen Fiat Marea. Mein Vater hatte ihn wegen des großen Kofferraums gekauft, der praktisch war, wenn er zum Markt fuhr und kistenweise Karotten, Paprika und Tropeazwiebeln kaufte. Ich hatte gar nicht mit ihr gerechnet, die letzten vagen SMS -Botschaften hatten erneut das Mantra des geduldigen Wartens beschworen. Als ich sah, wie sie die Handbremse anzog und mit zwei Einkaufstüten ausstieg, verloren meine Gefühle an Klarheit und Kontur. Ich versuchte, aus ihren Gesten schlau zu werden. Welche Wahrheit enthielten sie? Hatte der krampfhafte Griff, mit dem sie die Tüten umklammerte, nicht etwas Verstörtes, Ängstliches? Und ihr Gang, hatte der nicht etwas Ungutes, Unaufrichtiges? Lag da nicht so etwas wie Erschöpfung in ihrem Blick? Welche Version der Fakten würde sie mir auftischen?
    »Ciao«, sagte sie.
    Ich ging ihr entgegen, küsste sie auf beide Wangen und nahm ihr die Einkaufstüten ab.
    »Ciao, ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«
    »Warum?«, fragte sie. »Wir haben uns schon seit zehn Tagen nicht mehr gesehen.«
    »Opa bringt Cesco gerade Käse. Er muss jeden Moment zurück sein.«
    »Hat er schon was zum Abendessen gekocht?«
    »Keine Ahnung.«
    »Los, hilf mir!«, sagte sie. »Wir werden ihn überraschen.«
    Ich hielt sie zurück, indem ich eine Hand auf ihren Arm legte. »Und Papà?«
    »Nachher erzähl ich dir alles. Aber erst kümmern wir uns ums Essen. Ich komme fast um vor Hunger!«
    Wir deckten den Tisch und redeten über Capo Galilea, über die Abreise der Großeltern und über einen Diebstahl, der sich in ihrer Abwesenheit ereignet hatte – nichts Schlimmes, Schneidemaschine und Warmhalteplatte waren weg, aber wer bricht schon in ein Restaurant ein, um so was zu stehlen? Bestimmt hatte sie gute Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten erzählt man immer zuletzt. Und macht dann vielleicht noch eine Flasche Sekt auf und feiert.
    Großvater kam zurück. Das fritto misto di pesce , das meine Mutter unterwegs gekauft hatte, die involtini di spada mit Pinienkernen und die Zucchini und Spießchen wurden im Ofen aufgewärmt. Ich legte Musik auf.
    Iole kam nach dem Abendessen mit einer Apfeltarte und Creme fraîche.
    »Was ist denn das?«, fragte sie im Hereinkommen.
    »Tja, was ist das wohl?«, sagte meine Mutter.
    Beide betrachteten das Bild, das auf einer Zeitung stand und an der Wand lehnte. Iole trat näher, nahm es und hielt es ins Licht.
    »Schön!«, sagte sie. »Wer hat denn das gemalt? Und was ist das für ein Wesen in der Mitte?«
    Meine Mutter kam mir zuvor. »Falsche Frage, Iole! Wenn es um Comics geht, darf man von Zeno nie eine Erklärung verlangen, sonst hört er gar nicht mehr auf zu reden.«
    »Warum? Ist das eine Comicfigur?«
    »Silver Surfer«, antwortete ich. »Mehr werdet ihr von mir nicht erfahren.«
    Genauer gesagt: Silver Surfer, der in seiner ganzen magmatischen Herrlichkeit über den See gleitet. Silver Surfer, der versucht, seine geliebte Shalla-Bal, die Herrscherin über Zenn-La, zu befreien und dabei siegreich aus dem Kampf gegen Mephisto hervorgeht. Silver Surfer, der auf dem Weg zur Erde, noch bevor er sich mit den Fantastischen Vier zusammentut, einen Umweg über das Tal von Colle Ferro macht. Weil da etwas ganz Besonderes auf dem Grund des Stausees liegt, das man durchscheinen sieht, dort, wo Silver Surfer die Wasseroberfläche zerreißt und man in die Tiefe schauen kann. Vielleicht lässt er diese auch vernarben, womit die ewige Frage in Bezug auf das Sicheinmischen der Superhelden in unser Leben gestellt wird: Greifen sie uns an, oder beschützen sie uns? Zerstört oder heilt Silver Surfer den Widerschein des Gasthauses, den Widerschein der Auberge des deux noms auf der Haut des Sees?
    Voller Stolz auf die Zusammenarbeit und das Ergebnis bat Großvater Iole, ihm das Bild zu geben. Dann nahm er einen ewigen Kalender sowie ein Poster von Manets Le déjeuner sur l’herbe von der Wand und hängte es an ihrer Stelle auf.
    Er trat drei Schritte zurück.
    »Und ihr, was seht ihr darin?«

Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1966–1999
    Es ist Sonntagabend, und wir sind zu dritt in der Küche. Elena stillt

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