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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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gerade so eingefallen.«
    »Ich wüsste nicht mal, wie man dorthin kommt.«
    Agata kräht: Die Möwen! Meine Mutter zieht eine Tüte mit Brotresten aus der Tasche und schüttet sie ihr in die Hand. Agata wirft sie zwischen Meer und Sand. Die Vögel kommen näher. Agata fuchtelt mit den Armen und lacht mit dem ganzen Körper.
    Elena taucht mit zwei Eisbechern auf. Wir setzen uns auf eine Holzbank am Landungssteg und schlecken unser Eis. Um den Genuss zu erhöhen, schließen wir die Augen, aber bei geschlossenen Augen füllen Brandungsrauschen und Wind den Kopf.
    Am Montag stehe ich früh auf und fahre nach Mailand. Ich bin spät dran und kaufe keine Zeitung. Als ich den Firmensitz der Ferroni-Gruppe erreicht habe, in dem sich mein Büro befindet, sagt die Sekretärin, ich solle sofort meine Frau anrufen. Ich nehme ein seltsames Zittern in ihrer Stimme wahr, bekomme Herzrasen, spüre es in den Muskeln, in der Halsschlagader. Ich rufe sie an.
    »Elena?«, sage ich.
    Sie bricht ins Tränen aus.
    »Elena, was ist? Was ist passiert?«
    »Sie sind tot. Sie sind alle tot.«
    »Wer?«
    »Piero, Luigi, Enrica. Alle. Gestern, auf der Tour.«
    Ich verlasse das Büro und besorge mir eine Zeitung. Die Nachricht hat Schlagzeilen gemacht. Die Gruppe des Alpenvereins, mit der wir die Tour hätten unternehmen sollen, wurde von einer Lawine verschüttet. Sie waren gerade dabei, auf Skiern den Südhang eines Bergs im Aostatal zu erklimmen, direkt an der Grenze zu Frankreich. Sie wollten auf der anderen Seite abfahren und dann mit dem Bus zu ihren Autos zurückkehren. Luigis Onkel berichtet in einem Interview: »Wir waren schon auf dem Gebirgsgrat. Ich habe eine Art Knall gehört, wie von einem Schuss, mich umgedreht und mitbekommen, wie der Schnee sie mitgerissen hat. Er hat ausgesehen wie ein über die Ufer getretener Fluss.«
    Von zehn Personen waren fünf tödlich verunglückt. Dem Journalisten zufolge lagen Pieros und Luigis Leichen noch unter dem Schnee. Ich setze mich in eine Bar, bestelle einen Espresso und lese den Artikel noch einmal – so lange, bis ich meinen Kaffee ausgetrunken habe. Jedes Mal staune ich, dass mein Name nicht da steht.
    *
    Ich habe Überstunden gemacht und laufe auf der Suche nach einer Trattoria, die noch offen hat, durch die Straßen. Zu Hause habe ich nichts zu essen, außerdem habe ich keine Lust zu kochen. Ich zwänge mich in ein verrauchtes Lokal, auf das eine alte Laterne mit gelbem Schirm hinweist. Dort sehe ich mich nach einem freien Tisch um. Alles ist besetzt, einige Tische allerdings nur von einer Person. Ich setze mich ungern zu Fremden, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich mustere die Stammgäste, einer kommt mir bekannt vor. Ich gehe auf ihn zu.
    »Gioele!«, sage ich.
    Er hebt den müden Blick, erkennt mich und beginnt zu strahlen: »Simone!« Er steht auf, und wir umarmen uns.
    »Darf ich mich zu dir setzen? Ich wollte eine Kleinigkeit essen, komme gerade aus dem Büro.«
    »Aber natürlich! Wie geht es dir?«, fragt er.
    »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, Gioele? Warte, ich habe dich angerufen, als Agata geboren wurde, stimmt’s?«
    »Ja. Und ich habe dir versprochen, dich in Turin zu besuchen und deiner Tochter meine Aufwartung zu machen. Ein Versprechen, das ich nie eingelöst habe. Entschuldige bitte.«
    »Was machst du hier in Mailand?«, frage ich.
    Gioele senkt den Blick, nimmt ein Stück Brot, das vom Essen übrig geblieben ist. »Ich lebe, zumindest versuche ich das.« Er streckt den Arm aus und drückt meine Hand, genau wie früher. Es ist eine erwachsene, raue, trockene Hand. Ich rufe den Kellner, der mir aufzählt, welche Gerichte noch zu haben sind. Ich bestelle ravioli al ragù und ein Glas Wein. »Nein, keinen Nachtisch«, sage ich. »Bringen Sie mir Brot?«
    Gioele lässt meine Hand los, damit der junge Mann decken und ich ein Grissino entzweibrechen kann. Gioele erzählt mir, sein Vater habe ihn in einem Forschungslabor untergebracht, aber dort gefalle es ihm nicht, es interessiere ihn nicht. »Ich hab andere Dinge im Kopf.«
    »Und zwar?«
    Lächelnd sagt er: »Ihn zum Beispiel.« Er deutet auf einen Mann, der gerade hereingekommen ist. Er trägt einen ziemlich auffälligen Mantel, ein graues Jackett und einen gelben Schal. Er kommt auf uns zu und setzt sich. Gioele stellt uns vor. Der Mann ist etwas älter als wir, hat einen grau melierten Bart und einen Kneifer. Gioele bestellt ihm einen Amaro und sagt: »Mario und ich leben seit einem Monat

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