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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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vielen, vielen Jahren, sodass sie sich nur noch vage erinnern konnte: an einen Wald, einen Felsen, den Blick auf den Stausee, den Geruch nach Pilzen und Brombeeren, nach Moos und Harz.
    Wir nahmen die Straße, die man uns gezeigt hatte (nicht ohne uns vorher noch ein paar Informationen zu entlocken: Wer waren wir? Was wollten wir von dem Mann, den hier alle nur den Coifmann nannten?), und überholten einen Mann, der an den Straßenrand trat, um der Staubwolke auszuweichen, die uns folgte wie ein Kometenschweif. Fünf Minuten später hielten wir vor einem Haus, hinter dem ein Felsblock aufragte. Es war ein Natursteinhaus, eine jener Behausungen, die der Sonne, dem Wind und den Menschen, die darin leben, trotzen müssen. Ein Teil des Erdgeschosses folgte dem Felshang, während der zweite Stock, der offensichtlich erst kürzlich dazugekommen war, an drei Seiten einen Holzbalkon aufwies, und zwar auf derselben Höhe wie der Felsblock. Tür- und Fensterrahmen waren rot lackiert, die einen halben Meter dicken Außenmauern an Kanten und Fensteröffnungen von Blocksteinen eingefasst; im ersten Stock waren die übereinandergeschichteten, mit Mörtel verfugten Steine sichtbar, während sie im zweiten Stock von weißem Putz verdeckt wurden.
    Meine Mutter machte den Motor aus.
    »Ist es das?«
    »Ja, das ist es.«
    Wir stiegen aus und ließen die Autotüren auf. Resigniert griff ich nach meiner Reisetasche.
    Meine Mutter klopfte mit zitternder Hand an die Tür und wartete dann auf ein Lebenszeichen, auf irgendein Geräusch, wobei sie die Luft anhielt. Doch nichts rührte sich.
    Sie klopfte erneut, und diesmal sagte sie mit einer mir völlig fremden Stimme, die viel zerbrechlicher und schriller klang als sonst: »Papà.« Wieder kam keine Antwort, nicht einmal ein Quietschen oder Stuhlbeinschrammen. Ich ließ die Tasche auf die Wiese fallen und setzte mich auf die große Holzbank an der Hauswand. Meine Mutter trat mehrere Schritte zurück, um das ganze Haus zu betrachten. Dann versuchte sie, es einmal zu umrunden, aber nur drei Seiten waren zugänglich, die dritte bestand aus Erde und Fels.
    Aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, näherte sich ein Mann. Er sah aus wie der, der sich in die Büsche geschlagen hatte, um unserer Staubwolke zu entgehen. Sein Gang wirkte federnd. Ich sah ihn an, und er sah mich an. Er blieb nicht stehen, und ich stand nicht auf. Ich sagte nichts. Meine Mutter hatte ihm den Rücken zugewandt und versuchte, durch die Fensterscheiben, in denen sich der Himmel und die Bäume spiegelten, zu spähen.
    Wenn mein Großvater, so dachte ich, wenn mein Großvater größer ist, als ich mir das vorgestellt habe – größer als meine Mutter, ja sogar größer als mein Vater –, wenn er kurze weiße Haare hat und einen weißen, vollen Bart, der voller ist als seine Haare, wenn mein Großvater die gleichen grünen Augen hat wie meine Mutter, aber höhere Wangenknochen und hellere Haut, wenn er eine braune, an den Knien ausgebeulte, von Hosenträgern gehaltene Cordhose trägt und dazu ein weißes, zerknittertes Hemd, wenn, wenn, wenn … dann muss dieser Mann, der den Blick nicht von mir lassen kann, mein Großvater sein.
    Nun schien auch meine Mutter das Knirschen der Kieselsteine unter seinen Sohlen wahrzunehmen. Wie in Zeitlupe drehte sie sich um, und die beiden sahen sich an.
    Ich wusste nicht das Geringste über sie: Warum sie den Kontakt abgebrochen hatten, warum meine Mutter mir seine Existenz verheimlicht hatte, welche Verfehlungen, welcher Groll und welche Sätze unausgesprochen geblieben waren. Doch heute kann ich mir vorstellen, wie sie sich in diesem nicht enden wollenden Moment bemühten, mit ihren Schuldgefühlen fertigzuwerden.
    Ich rührte mich nicht von der Stelle, ja ich hörte sogar auf zu atmen. Die beiden verharrten einen Moment regungslos – wie lange, kann ich nicht sagen –, bis sie sich synchron bewegten und die Tanzschritte vollführten, die sie dreizehn Jahre lang heimlich eingeübt hatten. Mein Großvater lief um unser Auto mit den offenen Türen herum und musterte es, als suchte er nach noch verwertbaren Teilen. Meine Mutter überquerte die Wiese voller Unkraut und gelber Blumen. Es roch nach Brot und Erika, und zwischen den Steineichen funkelte metallisch der sich in der leichten Brise kräuselnde Stausee. Auf halber Strecke trafen sich meine Mutter und mein Großvater, standen sich plötzlich mit schlaff herabhängenden Armen gegenüber. Sie taxierten einander kurz, um

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