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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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eines Kreuzers oder U-Boots, zwischen Offizieren in Paradeuniform und eleganten Damen. Er ist häufig unterwegs, auch im Ausland. Man kennt ihn in Frankreich und in der Schweiz. Er spricht drei Sprachen: Italienisch, Englisch und Französisch. Als er noch viel gereist ist, hat ihn die Marine in staatlichen Gästehäusern oder Wohnungen untergebracht. Unsere Mutter und Gabriele sind immer mitgereist. Sie haben nie eine feste Bleibe gehabt, und unser Vater hat auch nie darum gebeten, in eine bestimmte Stadt versetzt zu werden. Er ging dorthin, wo er gebraucht wurde, tat, was man von ihm verlangte.
    Erst als unsere Mutter merkte, dass sie mit mir schwanger war, überredete sie ihn, um eine Versetzung nach Genua zu bitten, wo auch ihre Eltern lebten.
    »Ich möchte mein Kind nicht in einem Gästehaus zur Welt bringen«, sagte sie.
    *
    Eines Abends kommt unser Vater später als sonst von der Arbeit. Die Großeltern haben bereits gegessen. Gabriele liegt im Bett neben der Wiege, in der ich im Halbschlaf die Finger bewege – einfach so, ohne nach etwas zu greifen. Unsere Mutter, die auf der Matratze neben der Tür sitzt, betrachtet den selig schlummernden Gabriele. Die Flurlampe wirft ein gelbes Rechteck auf den Fußboden. In einem Korb unter der Konsole liegen jede Menge Zeitungen, die sie lieber ignoriert.
    Ein Schlüssel klappert im Schloss. Die Tür öffnet und schließt sich wieder. In dem Lichtrechteck auf dem Parkett erscheint der Schatten unseres Vaters mit Hut und Aktentasche. Er verharrt kurz darin, um anschließend zu verschwinden. Ein Stuhl wird verrückt, die Garderobenschranktür geht, im Arbeitszimmer des Großvaters klappern Gläser und Flaschen. Wieder sein Schatten. Er trägt keinen Hut mehr, hat die Aktentasche abgestellt. Er kommt nicht ins Zimmer, spürt die Gegenwart unserer Mutter auf der Matratze, riecht ihren Duft nach Zimt und Anis. »Ich bin heute entlassen worden«, sagt er.
    »Alle werden entlassen«, erwidert meine Mutter. »Es steht in der Zeitung.«
    »Hast du Zeitung gelesen?«
    »Das ist gar nicht nötig«, sagt unsere Mutter.
    Minutenlanges Schweigen. Sie sehen sich nicht an, berühren sich nicht. Ich spreize die Finger vor dem Mund, so als wollte ich zählen, aber das kann ich noch nicht. Schließlich ergreift meine Mutter das Wort: »Was hast du jetzt vor?«
    »Ich werde alles perfekt übergeben, damit mein Nachfolger problemlos weitermachen kann. Ich werde nicht von heute auf morgen damit aufhören, ins Büro zu gehen, falls du das meinst.«
    Tag für Tag rasiert sich unser Vater, nimmt seine Aktentasche und geht zur Arbeit. Tag für Tag, bis auf Samstag und Sonntag, und das zwei Wochen lang. Er ist nicht mehr angestellt und bekommt auch kein Gehalt mehr, aber das ist ihm egal. Als es im Büro keinen einzigen Problemknoten mehr zu lösen gibt, als er die Akten durchkämmt und über das glatte Haar unserer Mutter zu streichen glaubt, klappt er seinen Kalender zu, erhebt sich von seinem Schreibtisch, schließt den Manschettenknopf, weil er den rechten Ärmel beim Schreiben bis über den Ellbogen hochzukrempeln pflegt, und gibt sämtlichen Kollegen die Hand. Dann geht er die Treppe hinunter, während die Angestellten Spalier stehen, darunter einige, die er noch nie gesehen hat und die neu eingestellt worden sind. Er durchquert zwei Stockwerke, gibt jedem von ihnen die Hand, dem Pförtner, dem Botenjungen, schlüpft dann aus dem Tor und läuft in den Sonnenuntergang hinein, so weit ihn seine Beine tragen.
    Erst spätnachts kommt er nach Hause. Auf dem Küchentisch steht ein flacher Teller, der mit einem tiefen Teller abgedeckt ist. Darunter befindet sich kalt gewordenes Kalbfleisch mit Karottengemüse. Unsere Mutter ist in Gabrieles Bett eingeschlafen, der sich entspannt an sie schmiegt und eine Hand auf ihre Brust gelegt hat. Ich bin in eine bestickte Decke gewickelt und spreche mit den Schatten. Das entgeht unserem Vater nicht. Er kommt auf mich zu und streckt einen Finger in die Wiege, den ich fest umschließe.
    *
    Unser Vater bemüht sich, wieder Arbeit zu finden, möglichst in seiner Branche. Er versucht es bei Pharmaunternehmen. Die Personalchefs sind begeistert von seinem Lebenslauf, aber als sie seinen Pass sehen, lässt ihr anfängliches Interesse nach, und der Blick hinter ihren Brillengläsern wird stumpf.
    Ein alter Freund, ein bedeutender Zulieferer der Marine, verfasst ein Empfehlungsschreiben. Es besteht nur aus wenigen, zaghaften Sätzen, aber dank dieses Schreibens bekommt

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