Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
auszuloten, wer von ihnen den Anfang machen musste.
»Ciao«, sagte meine Mutter.
»Ciao, Agata.«
Ein Hupen hallte durch das Tal und verstummte abrupt. Zwei Vögel flatterten über das Haus und ließen sich auf einem Felssporn nieder.
»Das ist Zeno.«
Mein Großvater nickte.
Ein kurzer Abriss meines Lebens,
insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit
rekonstruieren oder imaginieren kann:
was die Erinnerung erhellt
1938–1945
Ich werde im November 1938 geboren, auch wenn mir das Recht darauf abgesprochen wird. Besser, ich würde im Bauch unserer Mutter bleiben, mich so lange wie möglich von Proteinen und Zucker ernähren, mich wieder von dem Körper aufnehmen lassen, der mich hervorgebracht hat. Aber das ist mir nicht möglich.
Unsere Mutter bringt mich unter einer tief stehenden Wintersonne zur Welt. Mit schmerzverzerrter Miene nennt sie den Namen, den sie mir geben will, den ich aber nicht bekommen werde: Yitzhak, der Lachende. Vielleicht klingt mein Lachen deshalb stets nach grünem Holz, rauchig und ohne echte Wärme: weil dieser Name an mir vorübergegangen ist.
Die Hebamme verlässt den Raum, der einst Onkel Elio gehört hat, zieht die Gummihandschuhe aus und betritt das Arbeitszimmer. Alle fahren herum und starren sie an. Großvater, der durch einen Vorhangspalt die Schiffsmanöver im Hafen beobachtet hat, tritt vom Fenster zurück. Großmutter, die in der wattierten Stille ihrer Taubheit eingenickt ist, umklammert ihr Hörrohr aus emailliertem Metallblech und hält es sich ans Ohr. Unser Vater, der sich auf den kleinsten der drei roten Samtsessel hat sinken lassen, schießt hoch wie eine Fontäne.
»Es ist ein Junge«, verkündet die Hebamme. »Sie will ihn Yitzhak nennen.«
»Yitzhak?«, sagt unser Vater.
»Yitzhak?«, wiederholt Großvater.
Großmutter schüttelt den Kopf. »Nein, nein«, sagt sie. »Wer nennt sein Kind heutzutage noch Yitzhak?«
Großvater klopft mit der Schuhspitze gegen die Fußleiste, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und drückt das Kreuz durch. »Wir werden ihn Simone nennen.« Er wendet sich an Großmutter. Sie begreift, dass ihre Meinung gefragt ist, hält das Höhrrohr in Richtung Großvater und runzelt die Stirn. Großvater zeigt auf das Bücherregal, hinter dem sich eine Wand befindet, hinter der wiederum das Schlafzimmer liegt, in dem ihre einzige Tochter gerade ein Kind bekommen hat. »Dein Enkel. Was hältst du von Simone?«
Großmutter denkt nach, brummt etwas und nickt.
»Und du, Enrico?«, sagt Großvater zu unserem Vater.
Unser Vater hebt den Kopf, lässt sich den Namensvorschlag seines Schwiegervaters auf der Zunge zergehen. »Simone.« Er lächelt: »Ja, Simone passt gut.«
Als die Hebamme geht, betritt mein damals vierjähriger Bruder Gabriele mit einer Handpuppe das Zimmer. Unser Vater nimmt ihn auf den Arm, drückt ihn an sich. »Du hast einen Bruder. Er heißt Simone.«
Gabriele hebt die Handpuppe und sagt: »Können wir jetzt rausgehen?«
*
Vor Genua liegt das Meer, dahinter Hügel und Berge und dazwischen die engen Gassen, carrugi genannt. In der Oberstadt befindet sich die Wohnung unserer Großeltern, bestehend aus einer Küche, einem Wohn- und Arbeitsraum und mehreren Schlafzimmern. In einem davon, dem wärmsten, das nach Süden hinausgeht, steht eine Kommode, in deren Schublade ich noch ganz blau und verschmiert gelegt werde, bis wir eine Wiege haben.
Niemand hat an die Wiege gedacht.
Während Gabriele am darauffolgenden Tag meine Füße und Handgelenke beschnuppert, geht unser Vater Enrico Coifmann aufs Standesamt und wird dort bei Dottor Fabrizio Costantino vorstellig. Er muss meine Geburt anzeigen, die Nichtbewilligung meiner Existenz unterzeichnen. Die Geburtsurkunde ist ein gelbes, brüchiges Blatt Papier. Darauf steht: Simone Coifmann, Rasse: Jude. Unten rechts ist ein Fleck. Er sieht aus wie ein Kaffeefleck. Aber niemand auf diesem Amt trinkt Kaffee. Weder Dottor Fabrizio Costantino noch unser Vater noch die Sekretärin, die wild mit zwei Fingern und einem Daumen auf ihre Schreibmaschine einhackt. Nachdem er mein Todesurteil besiegelt hat, verlässt unser Vater das Standesamt und geht ins Büro, wo man ihn willkommen heißt und respektiert.
Unser Vater ist einer der bedeutendsten Chemiker der königlichen Marine. Er liebt seine Arbeit und sein Land. Die Fotos, die er stets bei sich trägt und an fremde Wände hängt, sobald er eine neue Wohnung bezogen hat, zeigen ihn auf einem Empfang oder beim Stapellauf
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