Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
Vom Netzwerk:
toten Beinen geworden ist. Ich möchte mit Gabriele darüber sprechen, weiß aber nicht, wo ich anfangen soll.
    Am liebsten wäre mir, er würde mich danach fragen. Wieso merkt er nicht, dass ich ihm ein wichtiges Geheimnis anvertrauen möchte? Er müsste es mir ansehen.
    Wir sind schließlich Geschwister. Aber wenn er nicht fragt, darf ich nichts sagen.
    Gabriele haucht gegen die Scheibe und zeichnet ein Gewehr auf das beschlagene Glas. Auch ich hauche gegen das Glas und zeichne einen Mann mit Hut und Halstuch. Ich kann sehr gut zeichnen. Ich weiß, dass ich besser bin als Gabriele, würde das aber nie laut sagen. Gabriele haucht wieder gegen das Glas und lässt die Fläche zwischen unseren Zeichnungen beschlagen. Mit ein paar Strichen simuliert er einen Schuss. Der Mann mit Hut und Halstuch wird tödlich getroffen. Gabriele löscht ihn aus und sagt: »Du bist tot.« Ich lasse mich zu Boden fallen. Wir beginnen, uns zu prügeln, ich zaghaft, um ihm nicht wehzutun, er fest, ohne jede Rücksicht. Anfangs wehre ich seine Hiebe mit Armen und Händen ab, dann höre ich auf. Ich lasse zu, dass er mich trifft, leiste keinen Widerstand. Ich bin ein Sack Mehl. Als wir den Schlüssel im Schloss hören, stehen wir auf und ordnen unsere Kleider. Unsere Haare sind zerzaust, unsere Wangen rot.
    Unsere Mutter zieht den Mantel aus und sagt: »Was ist passiert?«
    »Wir haben gespielt.«
    »Es ist spät«, sagt sie. »Geht schlafen.«
    »Wo schläft er?«, frage ich.
    Unsere Mutter verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und schlüpft aus ihren Schuhen. »Unser Gast?«
    »Ja.«
    »Bei euch im Zimmer. Ihr beide schlaft in einem Bett, in dem von Gabriele.«
    Vor dem Einschlafen erhitzt der wichtige Mann in einem seiner Töpfe etwas Milch. Er gießt sie in eine Tasse und trägt sie ins Zimmer. Er nimmt einen Schluck davon und schläft anschließend ein. Als er eingeschlafen ist, schleicht Gabriele auf Zehenspitzen in die Küche, nimmt ein Stück Braten, ein winziges Stück, kommt wieder ins Zimmer und lässt es in die Tasse des wichtigen Mannes fallen. Unter der Decke liegen wir Arm in Arm da und unterdrücken ein Kichern – ich an seiner Brust, er zwischen meinen Haaren.
    *
    Unser Vater braucht lange, bis er eine neue Arbeit gefunden hat. Niemand versteht, warum. Er ist der Einzige unter unseren Bekannten, der nicht sofort wieder eine Stelle in irgendeiner Firma bekommt. Unsere Mutter fragt ihn manchmal danach, und wir warten mit angehaltenem Atem auf seine Antwort, während wir im Flur liegen und zeichnen. Aber er antwortet nicht, sondern zieht sich immer mehr von uns zurück.
    Als er vom Hydrographischen Institut angestellt wird, schleift uns meine Mutter in die Stadt, um das zu feiern. Unser Vater will nicht und jammert. Als wir in einer Bar miteinander anstoßen, sagt Großvater, der sich erhoben hat: »Das wurde auch langsam Zeit.«
    Unser Vater hat sich verändert. Unsere Mutter spricht mit ihren Freundinnen darüber, in der Küche, wenn sie zusammen Tee trinken. Auch ich denke es bei mir, sage aber nichts. Gabriele dagegen scheint nichts zu bemerken. Unser Vater ist oft beruflich unterwegs, wir sehen ihn nur selten. Wenn wir ihm begegnen, ist er schweigsam, antwortet in mürrischen Halbsätzen, die in der Luft hängen bleiben wie Krümel an den Lippen, bevor sie zu Boden fallen. Er geht nie aus, besucht nie die Synagoge. Wenn er zu Hause ist, verbringt er viel Zeit im Innenhof, wo er liebevoll ein paar Basilikum- und Minzpflänzchen angesät hat. Außerdem kümmert er sich um einen Rhododendron, der eingegangen wäre, wenn er ihn nicht gerettet hätte. Abends wünsche ich mir, dass er sich kurz zu mir ans Bett setzt. Aber er kommt nicht. Nichts mehr von wegen Schma Jisrael adonai elohejnu adonai echad .
    »Gefällt dir deine Arbeit?«, fragt unsere Mutter.
    »Ja«, sagt er.
    »Warum ziehst du dann ständig so ein Gesicht? Was passt dir nicht?«
    »Nichts.«
    »Das wirkt aber gar nicht so. Du siehst finster drein, selbst wenn alle anderen strahlen.«
    »Es tut mir leid.«
    Ich kauere hinter ihrer Schlafzimmertür. Ich höre, wie unsere Mutter weint und unser Vater ganz leise sagt: »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Da weiß ich, dass sie sich über seine Beine beugt, und er ihren Nacken massiert, ihr zärtlich übers Haar streicht. Ich verliere an Substanz. Ich durchdringe den Boden, durchquere die Fliesen, die tragenden Balken, den Estrich. Die Nägel, Rohre, Kabel verlaufen direkt vor meinen Augen. Ich

Weitere Kostenlose Bücher