Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
falle in die Wohnung darunter, in der eine Frau lebt, die im Krieg Mann und Kinder verloren hat und die sich vor dem Spiegel die Haare kämmt, bevor sie ins Bett geht. Ich falle in eine Truhe, die die Frau neben der Tür stehen hat. Sie ist voller Fotos, Briefe und Kinderzeichnungen. Ich versuche, etwas davon zu fassen zu bekommen, aber meine Finger können nichts halten. Unsichtbar sickere ich in den ersten Stock. Ich durchquere den Raum, während der Bewohner, ein Anwalt, mit seiner wenige Tage alten Tochter auf und ab geht und sie in seinen Armen wiegt. Kurz sehe ich in ihren noch trüben Augen das Gesicht des Vaters, das riesengroß über ihr schwebt. Die Liebe in ihrem Blick, die unendliche Liebe zu dem Mann, der sie in den Armen hält, lässt mich wieder Gestalt annehmen. Wie eine Luftblase schwebe ich empor, dringe erneut durch Ziegel, Rohre, Dämmmaterial und tauche im Flur wieder auf, vor der Schlafzimmertür unserer Eltern. Inzwischen sind ihre Stimmen verstummt.
*
Großvaters Angestellte konnten die Firma retten. Sie haben gearbeitet, solange es ging, und die Bücher und Beziehungen zu den ihnen treu gebliebenen Kunden weitergeführt.
Als sie die Fabrik schließen mussten, weil es keinen Fisch mehr gab, haben sie die Maschinen sichergestellt, sie mit Tüchern zugedeckt, um sie vor Staub und dem Zahn der Zeit zu schützen. Sie haben sämtliche Akten in einem Keller versteckt und sämtlichen Kunden und Lieferanten einen Brief geschickt, in dem sie ihnen versicherten, dass sie ihnen nach dem Krieg wieder in der gewohnten Qualität zur Verfügung stehen werden. Und so ist es dann auch gekommen: Die Bomben haben das Fabrikgebäude nicht getroffen, und unser Großvater ist zurückgekehrt.
Bevor die Schule wieder anfängt, verbringen wir viel Zeit an Großvaters Arbeitsplatz zwischen Fisch, Konservendosen und allen möglichen Maschinen. Wenn wir lernen sollen, um den Unterrichtsausfall nachzuholen, gehen wir in ein Gebetshaus, in dem Freiwillige Mathematik, Italienisch und Naturwissenschaften unterrichten. Ich muss oft an Colle Ferro denken. Mir fehlen die Wiesen und Wälder, mein Versteck unter den Farnwedeln, Iole und Maria, ihre Tiere.
»Ich will wieder zurück«, sage ich zu Gabriele.
»Hinter uns liegt der Krieg, du Dummkopf!«, meint er. »Jetzt ist es doch viel besser. Wir können uns frei bewegen, ohne dass uns jemand umbringt oder uns eine Bombe auf den Kopf wirft. Jetzt ist es besser als damals im Zug, als wir von Flugzeugen unter Beschuss genommen worden sind, oder etwa nicht?«
»In Colle Ferro sind keine Bomben gefallen, und es hat uns auch niemand erschossen.
»Aber überall sonst auf der Welt.«
»Wir waren nicht überall sonst auf der Welt. Wir waren in Colle Ferro.«
»Du denkst nur an dich!«, sagt er.
»Nein. Auch an dich, an unsere Mutter, unseren Vater und unseren Großvater.«
Während wir reden, konstruieren wir Papierflugzeuge aus alten Zeitschriften. Wir falten ein Blatt für die Nase, falten es erneut, um eine doppelte, robustere Nase zu erhalten, anschließend widmen wir uns den Flügeln. Jeder von uns hat seine eigene Technik. Wenn wir damit fertig sind, werfen wir sie von der Voliere nach unten in den Innenhof. Wir haben eine Zielmarkierung in den Kies gemalt: Dort müssen sie landen. Jeder von uns baut drei Flugzeuge, wir werfen sie alle hinunter, anschließend sehen wir nach, wer am genauesten gelandet ist.
»Hör endlich auf, ›unser Vater‹, ›unsere Mutter‹ zu sagen!«, ermahnt mich Gabriele. »Dann werden dich die anderen auch nicht mehr aufziehen.«
»Aber wenn es doch stimmt! Es sind doch unsere.«
»Ja, aber es sind auch deine.«
»Aber nicht nur meine.«
Wir laufen gerade die Treppe hinunter. Gabriele seufzt genervt auf und versetzt mir einen unerwarteten Stoß. Ich stolpere und stürze, schlage mir den Ellbogen an der Stufe an. Der Schmerz ist überwältigend, er vernebelt mir die Sinne, aber ich zwinge mich, nicht zu weinen. Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Unterlippe blutet.
Gabriele kniet sich neben mich. »Es tut mir leid«, sagt er. »Das wollte ich nicht. Du hast ja recht, es sind unsere, die von uns beiden.«
*
Im Sommer 47 werden Gabriele und ich in ein Rote-Kreuz-Ferienlager in die Schweiz geschickt, wo wir etwas zunehmen sollen. Es ist ein Sommerlager für unterernährte Kinder. Besuch von den Eltern ist verboten.
Das Lager wird von einer Frau geleitet, Signora Maike. Die teils recht provisorischen Unterkünfte, das Grundstück,
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