Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Gefühl, mich übergeben zu müssen. Inzwischen ist niemand mehr im Saal, ich bin der Letzte. Ich höre, wie die anderen im Hof spielen. Berthold lehnt an der Tür und wartet mit verschränkten Armen auf mich. Ich weiß nicht, was jetzt wird, nur dass Berthold hinausgeht und die Tür zu bleibt. Gabriele kommt herein, rennt auf mich zu, isst schnell zwei, drei Löffel Porridge. Den Rest schüttet er aus dem Fenster, dorthin, wo es nur Büsche gibt.
»Warte, bis Berthold wiederkommt!«, befiehlt er mir und verschwindet.
Als Berthold zurück ist, reiche ich ihm die leere Schüssel. Er nimmt sie entgegen, mustert mich forschend und gibt mir dann das Zeichen zum Gehen. Aber in diesem Moment kommt Signora Maike mit Manlio herein. Manlio hat Porridge im Gesicht, in den Ohren, auf dem Hemd. Sie zeigt auf das Fenster, aus dem jemand Brei geschüttet hat.
Zehn Minuten später kommt Signora Recha aus der Küche. Sie hat neuen, wieder aufgewärmten Brei dabei und sagt: »Hier, für dich!«
Berthold befiehlt mir, mich zu setzen.
Leise beginne ich zu weinen.
*
Eines Nachmittags gehe ich mit Manlio und einem anderen Kind zum Holzsammeln. Im Lager müssen wir alle abwechselnd Holz sammeln. Einige Kinder beschweren sich darüber, aber ich gehöre nicht dazu. Das erinnert mich an die Zeit, in der ich noch mein Versteck unter den Farnwedeln hatte. Ich mag die Einsamkeit und Stille im Wald, das dampfende Licht, das aus Ast- und Blätterwerk aufsteigt. Wenn Berthold uns zusammentrommelt und fragt, ob jemand freiwillig mitkommt, hebe ich stets die Hand.
An diesem Tag entdecke ich auf dem Rückweg ein Vogelnest, weit oben in einer Eiche. »Wartet!«, sage ich. Ich lasse das zu einem Bündel geschnürte Holz fallen und klettere den Stamm hinauf. Mit Ach und Krach kann ich einen Blick in das Nest werfen. Drei schwarz gefleckte Eier liegen darin.
»Von welchem Vogel sind die?«, fragen meine Kameraden.
»Keine Ahnung«, sage ich. Nur die Eier sind zu sehen.
»Nimm sie mit! Wir geben sie Signora Recha, dann kann sie sie kochen.«
»Nein«, sage ich. »Außerdem sind sie ganz klein.«
»Nimm nur eines heraus und zeig es uns.«
Widerwillig nehme ich eines und stecke es in die Hemdtasche. Gleich werde ich noch einmal hochklettern müssen, um es zurückzulegen. In diesem Moment bricht der Ast, auf dem ich sitze, und ich falle, knalle auf zwei Zweige unter mir und lande nach einem scheinbar endlosen Sturz auf dem Boden. Erst habe ich nicht das Gefühl, mir wehgetan zu haben: Das Gras hat meinen Sturz gedämpft. Aber das Ei ist zerbrochen. Es hat mein Hemd in Höhe meines Herzens befleckt. Meine Kameraden kommen näher, fragen, wie es mir geht. »Gut«, sage ich. Aber langsam, wie aus weiter Ferne, erreicht mich ein stechender Schmerz im Bein. Meine Hose ist zerrissen. Manlio kniet sich neben mich, zieht ein Hosenbein hoch, reißt die Augen auf und kneift sie anschließend zu. Im Fallen hat sich ein Zweig in meinen Knöchel gebohrt und mir die Haut bis fast zum Knie aufgerissen.
Die anderen rennen los, um Berthold zu holen. Als er kommt, hebt er mich hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder, und bringt mich zur Krankenstation.
Ich bitte darum, dass Gabriele benachrichtigt wird, aber der Arzt sagt nur: »Gleich.« Er desinfiziert die Wunde, schließt ihre Ränder mit einer Pinzette und legt mir einen Verband an. Ich schlafe auf der Krankenstation, und Signora Recha bringt mir das Abendessen. Ich nehme es allein zu mir. Am Tag darauf beschließen wir mit Erlaubnis von Signora Maike, dass ich nach Hause schreibe und berichte, was mir zugestoßen ist.
Berthold bringt mir Papier und Stift. Ich schreibe den Brief viermal und gebe die letzte Version schließlich ab. Der Brief, der jetzt folgt, ist mein zweiter Versuch. Ich habe ihn aufbewahrt. Ich hebe alles auf, was ich schreibe.
Liebste Mama, ich ich habe schlechte Nachrichten: Als ich im Wald gespielt habe, bin ich auf einen Felsen gefallen und habe mir weh eine kleine Schürfwunde zugezogen. Ich wurde sofort zum Arzt gebracht, der meine Haut mit einer Pinzette wieder glatt gezogen hat. Ein bisschen weh habt hat das schon getan, aber jetzt ist alles wieder gut. Das Wetter ist schön, aber es ist schon frischer geworden, deshalb ziehen wir wärmere Kleidung an, Kuss, simone Simone.
»Du bist gar nicht auf einen Felsen gefallen!«, sagt Gabriele. »Und du hast dir auch nicht nur eine kleine Schürfwunde zugezogen, sondern dich ziemlich schwer verletzt. Es stimmt auch nicht, dass alles
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