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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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auf dem sie errichtet worden sind, und die Wälder, die es umgeben, gehören ihr. Ihr Assistent, ein zwanzigjähriger Österreicher, heißt Berthold. Als wir ankommen, erzählen uns die größeren Kinder, er sei der einzige Überlebende einer Familie mit elf Kindern. Alle anderen seien im Bombenhagel gestorben. Das sei auch der Grund, warum er so streng und aggressiv sei. Wir wissen nicht, ob das stimmt, aber Berthold ist wirklich unerbittlich, manchmal rutscht ihm sogar die Hand aus.
    Signora Maike arbeitet im Souterrain des Hauses, im Hauptflügel. Die Unterlagen, die sämtliche Informationen über uns enthalten, wandern durch eine Durchreiche hin und her. Oft sehen wir, wie Delegationen eintreffen, Autos, aus denen die Wohltäterinnen steigen, die all das erst ermöglichen. Es ist ihr Geld, ihre Spende, die uns ernährt. Sie kontrollieren, ob auch alles ordnungsgemäß abläuft, ob ihr Geld richtig ausgegeben wird.
    Wir sind fast hundert Kinder aus verschiedenen Ländern. Wir verständigen uns mit Händen und Füßen, lernen aber rasch die wichtigsten Wörter in den anderen Sprachen: Schimpfwörter, Beleidigungen, Grußformeln. Ständig kommt es schon aus geringstem Anlass zu Raufereien. Gabriele beschützt mich.
    Die Schlafsäle sind riesig, darin stehen Stockbetten.
    Die Betten sind keine Betten, sondern Feldbetten. Es gibt keine Matratzen, sondern ein mit Stoff bespanntes Gestell. Alle wollen oben schlafen, also hat Berthold entschieden, dass wir uns abwechseln müssen. Wir schlafen eine Nacht unten, eine in der Mitte und eine oben.
    Manlio ist aus der Toskana und macht nachts ins Bett. Aber auch er möchte oben schlafen, obwohl sein Pipi durch den Stoff nach unten tropft. Deshalb ziehen wir aus einer Blechdose Lose, um zu ermitteln, wer unter ihm liegen muss, wenn Manlio oben schläft.
    Manlio und ich freunden uns an. Er ist der Einzige, bei dem ich mich sicher fühle. Als wir eines Tages unter einem Baum sitzen und die anderen beim Spielen beobachten, fragt er mich: »Hast du schon mal ins Bett gemacht?«
    »Als ich klein war vermutlich, so wie alle.«
    »Ich habe noch nie ins Bett gemacht, bis zu dem Tag, als die Bomben fielen.«
    »Welche Bomben?«, frage ich.
    »Die Bomben, die auf meine Stadt geworfen wurden. Eines Tages war ich mit meiner Mutter im Gottesdienst. Dann sind Flugzeuge gekommen und haben alles bombardiert. Sirenen heulten, es gab Fliegeralarm. Auf dem Weg nach draußen habe ich meine Mutter aus den Augen verloren, weil es so ein Gedränge gab. Ich wusste nicht, was ich tun soll, also bin ich in der Kirche geblieben. Ich habe mich in einem der Weihwasserbecken versteckt. Die Bomben haben die Häuser zerstört, auch unseres, in dem sich meine Schwester befand, und einen Teil der Kirche, der eingestürzt ist. Aber ich konnte mich retten, und seitdem mache ich ins Bett.«
    »Und deine Mutter?«, frage ich.
    Manlio lächelt. »Sie konnte sich ebenfalls retten. Sie ist in den Keller geflohen. Als wir wieder vereint waren, hat sie mir als Erstes zwei saftige Ohrfeigen verpasst und dann: ›Wo hast du nur gesteckt?‹ Schließlich ist sie in Tränen ausgebrochen und hat mich umarmt.«
    *
    Die Lagerköchin heißt Recha. Sie trägt abgewetzte Männersachen und hat kurzes, glattes, mit Pomade nach hinten gekämmtes Haar. Sie raucht ununterbrochen, sogar beim Kochen. Dann zittert die Zigarette zwischen ihren Lippen. Fällt die Asche in die Suppe, rührt sie einfach weiter, als wäre nichts geschehen – so lange, bis sich alles vermischt hat. Signora Recha brummt ständig vor sich hin, und wenn sie böse wird, teilt sie Ohrfeigen aus. Begegnet man ihr dagegen im Treppenhaus, sucht sie in ihren Hosentaschen nach Bonbons, und wenn sie eines findet, schenkt sie es her. Zum Frühstück gibt Signora Recha jedem Kind eine riesige Portion Porridge, also Haferbrei mit selbst gemachtem Sirup aus Himbeeren und Heidelbeeren, die wir an den Vor- und Nachmittagen im Wald pflücken. Es gilt folgende Regel: Niemand darf sich vom Tisch erheben, bevor er seinen Porridge nicht ausgelöffelt hat.
    Der Speisesaal nimmt den gesamten ersten Stock des Hauptgebäudes ein, in dessen Souterrain Signora Maike ihr Arbeitszimmer hat. Während der Mahlzeiten werden beide Türen des Saals geschlossen. Verlassen kann man ihn nur durch die Tür, die Berthold bewacht. Ihm muss man seine leere Schüssel geben.
    Eines Morgens schaffe ich es nicht, meinen Porridge aufzuessen. Jedes Mal, wenn ich den Löffel zum Mund führe, habe ich das

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