Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
wieder gut ist.«
»Sonst macht sie sich bloß Sorgen«, entgegne ich.
Ich bleibe acht Tage auf der Krankenstation. Eine Gruppe Wohltäterinnen, die Signora Maike besucht, hat von meinem Unfall erfahren und sieht nach mir. Ich bekomme neue Pantoffeln. Ich habe noch nie ein neues Paar Pantoffeln besessen und finde sie wunderschön. Die Frauen sehen meine Kleider auf dem Stuhl.
»Die wurden alle gewendet«, sagt eine, und eine andere: »Du brauchst neue Garderobe.«
»Meine Sachen sind noch prima«, sage ich beleidigt. »Unsere Eltern versorgen uns mit allem, was wir brauchen«, um dann noch hinterherzuschieben: »Ihre Pantoffeln sind allerdings sehr schön, vielen Dank.«
Ende September fängt die Schule wieder an. Gabriele hat hervorragende Noten, doch ich lasse mich schnell ablenken, kleckse mit Tinte, bin ungeschickt. Meine Lehrer sprechen mit unserer Mutter darüber. »Er ist unaufmerksam«, sagen sie. »Nie ist er mit den Gedanken da, wo er sein soll.«
»Wo ist er dann?«, fragt meine Mutter.
»Nun, er sitzt zwar vor dem Lehrerpult, könnte aber genauso gut nicht da sein. Er verschwimmt mit den Wänden, den Bänken, der Tafel. Stellt man ihm eine Frage, ist er nicht anwesend. Er antwortet nicht, bis er die Augen aufreißt und plötzlich wieder zurückkehrt.«
»Das verstehe ich nicht«, meint unsere Mutter.
Die Lehrerin fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Das ist beunruhigend.«
Gabriele verbringt zu Hause immer mehr Zeit mit Lernen. Er gründet eine Zeitschrift, die er mit Freunden herstellt und an Freunde unserer Eltern oder Nachbarn verkauft. Die Zeitschrift enthält kurze Aufsätze über Literatur, Lyrik und Prosa. Er liest sämtliche Bücher, die er in die Finger bekommt, vor allem Romane. Eines Tages bittet er unseren Vater, das Zimmer, das er mit mir teilt, verlassen zu dürfen. Er möchte ins Arbeitszimmer ziehen, wo wir seit zwei Jahren die Habe unserer Verwandten aufbewahren. Unsere Eltern sprechen mit Großvater darüber. Ich hoffe, dass sie Nein sagen, aber stattdessen stimmen sie zu.
Unser Vater holt den Schlüssel aus der ganz hinten in einer Küchenschublade versteckten Holzkiste. Seit wir dieses Haus bezogen haben, war niemand mehr im Arbeitszimmer. Überall liegt Staub. Wir packen vier Koffer mit ihren Sachen und spenden sie einer Wohltätigkeitsorganisation. Wir wischen das Zimmer, putzen Fenster und Fensterrahmen und bringen Gabrieles Bett, seine Bücher, seinen Besitz und seine Kleider dorthin.
»Was, wenn sie zurückkommen und ihre Sachen abholen wollen?«, frage ich.
»Sie kommen nicht mehr zurück«, sagt unsere Mutter.
»Warum?«
»Was wollt ihr heute Abend essen?«, erwidert unsere Mutter. »Ich habe frische Eier bekommen, und sogar Heidelbeeren.«
Gabriele zupft an meiner Jacke, zerrt mich in das Zimmer, das einst uns beiden gehört hat und jetzt nur noch mein Zimmer ist. »Idiot, hast du’s immer noch nicht kapiert?«, sagt er. »Onkel Elio und seine Familie sind tot. Sie sind alle tot. Die Deutschen haben sie abgeholt und ins KZ gebracht. Sie sind in Birkenau gestorben.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich lerne, lese und zuhöre.«
»Auch ich lerne, lese und höre zu.«
»Ja«, erwidert er. »Aber bei dir geht alles da rein und hier wieder raus, wie Wasser, das durch Kies sickert. Bei mir dagegen bleibt alles hängen.«
*
Ich lerne zeichnen, malen, schnitzen. In Kunst habe ich die besten Noten. Aber nicht die Kunst an sich fasziniert mich, sondern die Materialien, ihre Eigenschaften – Ölfarben zum Beispiel.
Ölfarben heißen so, weil sie trocknende Öle als Bindemittel haben. Sie nehmen Sauerstoff auf und sorgen für eine Patina, die mit der Zeit immer dicker wird. Ich rühre sie selbst an. Ich benutze Mohnöl, Leinöl und Walnussöl, Zinkoxid für Weiß, Kadmiumsulfat für Gelb und Rötel für Rot. Ich stelle fest, dass das Bild vergilbt, wenn es an einem dunklen Ort aufbewahrt wird, dass man es besser direktem Tageslicht aussetzt und aufhängt. Es macht mir Spaß, Keilrahmen herzustellen und sie mit Leinwand zu beziehen. Unsere Mutter geht mit mir Hanf und Baumwolle kaufen.
Unser Vater arbeitet immer mehr, wir sehen ihn kaum noch.
Großvater zieht aufs Land. Er will nicht mehr in der Stadt wohnen, sagt er. Genua sei einfach nicht mehr das Genua von vor dem Krieg. Es zerreiße ihm das Herz, es so zu sehen.
Unsere Mutter freut sich, wenn ich male, mit Farben und Pigmenten hantiere, auch wenn sie nicht ganz versteht, warum ich das tue, da ich
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