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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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fast alles wegwerfe, was ich produziere. Als sie mich bittet, ein Bild, das ihr gefällt, im Flur aufzuhängen oder zumindest in meinem Zimmer, damit sie es betrachten kann, wenn sie zum Aufräumen kommt, sage ich, es sei noch nicht fertig. Anschließend werfe ich es weg.
    »Warum gehst du nicht raus?«, fragt sie. »Gabriele ist ständig mit seinen Freunden unterwegs. Nach dir fragt niemand. Du bist blass, Simone, und immer noch viel zu dünn.«
    Von nun an mache ich Gymnastik: Arm- und Beinbeugen, Bauchbeugen, Übungen für den Rücken. Ich trainiere gleich morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen. Ich werde kräftiger, aber nicht dicker. Gabriele fordert mich im Armdrücken heraus, und es gelingt mir, ihn zweimal zu besiegen. Trotzdem werde ich den Verdacht nicht los, dass er mich hat gewinnen lassen.
    Ich werde wieder zum Mästen in die Schweiz geschickt, zu Signora Maike, Signora Recha und Berthold. Das erste Mal im Sommer 49, dann noch mal im Sommer 51. Ich ganz allein, ohne Gabriele. Ihm geht es gut.
    Im Sommer 51 gehöre ich zu den Größten. Alle Jungen mit etwas mehr Erfahrung haben bestimmte Pflichten: den Schlafsaal kontrollieren, Holz nachlegen, nachsehen, ob überall abgeschlossen ist. Ich bitte darum, der Küche zugeteilt zu werden. Signora Recha freut sich, mich um sich zu haben, und Signora Maike freut sich, dass ich mich fürs Essen interessiere. »Vielleicht schaffst du es diesmal zuzunehmen, Coifmann.« Aber nicht das Essen interessiert mich: Ich interessiere mich dafür, wie Nahrungsmittel zubereitet werden, wie sie sich verwandeln. Dafür, wie aus Zucker Zuckersirup und aus Zuckersirup Karamell wird. Wie Milch zu Joghurt wird. Wie Obst fault, wie Schimmel entsteht und Öl brutzelt. Unter dem Vorwand, mich am Herd zu betätigen, esse ich sogar noch weniger als sonst. Mir genügt der Geruch. Auch Gerüche verwandeln sich. Ich lerne, wann ein Steak fertig ist, nämlich dann, wenn es einen bestimmten Duft verströmt. Das Gleiche gilt für Tomatensauce.
    Die wenige Zeit, die ich mit anderen Kindern verbringe, nutze ich, um Sophie, die Tochter einer Mitarbeiterin Maikes, zu beobachten.
    Ich habe sie schon 49 gesehen, und auch sie hat sich inzwischen verwandelt.
    Ihre Haare sind fülliger, ihr Busen ist üppiger geworden, der Teint dunkler. Im Schutz der Bäume sehe ich ihr beim Volleyballspielen zu. Ich folge ihr mit meinen Blicken, wenn sie mit anderen Mädchen zum Pilze- und Beerensammeln in den Wald geht. Ich spioniere ihr nach, schaue durchs Küchenfenster in den Hof. Wenn Berthold Theateraufführungen organisiert, ist sie sofort dabei und lässt sich einer der folgenden Gruppen zuteilen: Gesang, Schauspiel oder Tanz. Ich nehme am Sportfest des Lagers teil, damit sie mich beim Diskuswerfen sieht. Letzteres hat mir Berthold beigebracht. Spaß macht es nicht, aber ich hoffe, sie damit zu beeindrucken. Doch sie kommt an besagtem Tag gar nicht zu den Wettkämpfen. Wir wechseln kein einziges Wort bis zu einem Abend nach dem Essen. Ich sehe, wie sie mit ihren Freundinnen plaudert, eine davon zeigt auf mich. Sie tut so, als wenn nichts wäre. Am Tag darauf begleite ich gerade eine Gruppe Neulinge zum Holzsammeln, als sie auf mich zukommt und mich in dem Kauderwelsch, das wir hier alle sprechen, fragt, ob ich später mit ihr spazieren gehen will.
    Ich möchte Ja sagen. »Ich weiß nicht«, sage ich.
    Sie wartet, bis mein »Ich weiß nicht« zu einem Entschluss reift.
    »Ich bin müde«, sage ich.
    »Gut«, erwidert sie und geht.
    Am Tag darauf lässt Signora Maike nach mir rufen: Coifmann, du musst sofort zurück nach Italien.
    *
    Am Bahnhof werde ich von Onkel Marcello abgeholt, den ich nur selten sehe. Auch Gabriele sitzt im Auto.
    »Warum habt ihr mich zurückgeholt?«, frage ich.
    »Papà geht es nicht gut«, antwortet Gabriele.
    »Was soll das heißen, ihm geht es nicht gut? Was hat er denn? Wo ist er?«
    »Bei eurer Mutter«, sagt Onkel Marcello.
    »Und wo ist unsere Mutter?«
    »Sie stößt heute Abend zu euch«, erwidert der Onkel.
    »Wieso, wo fahren wir denn hin?«
    »Zu Großvater aufs Land«, sagt Gabriele.
    »Warum können wir nicht zu uns nach Hause?«
    Onkel Marcellos Antwort besteht darin, dass er sich die Lippen mit einer unsichtbaren Nadel zunäht. Er will uns zum Lachen bringen, was ihm auch gelingt. Die restliche Fahrt über probieren wir die Gesten aus, die er uns in Colle Ferro beigebracht hat. Seit damals haben wir kaum richtig Zeit mit unserem Onkel verbracht. Er

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