Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
erzählt uns von seinen Flugzeugabenteuern, davon, wie er in Spanien gelandet ist, wie er Flugblätter über Südfrankreich abgeworfen hat und dabei fast von der Flugabwehr abgeschossen wurde. Wir erfahren, dass er vor dem Krieg Luftfahrtminister Italo Balbo höchstpersönlich kennengelernt hat, ja sogar mit ihm befreundet war.
Als wir Großvaters Haus erreichen, ist niemand da. Wir langweilen uns im Innenhof, werfen Steine in den Teich und fangen zwei Frösche. Großvater und unsere Mutter kommen erst, als wir längst im Bett sind. Wir hören den Motor, die Reifen auf dem Kies und begrüßen sie im Schlafanzug.
»Wo ist unser Vater?«, fragen wir.
Großvater streicht uns über den Kopf und verschwindet in seinem Zimmer. Unsere Mutter ist blass und erschöpft. Sie will etwas sagen, lässt es aber bleiben und hüstelt. »Es regnet, ist euch das schon aufgefallen? Ich habe mich erkältet und muss jetzt schlafen. Geht wieder auf euer Zimmer, wir reden morgen weiter.«
»Wann können wir ihn sehen?«, erkundige ich mich.
Sie antwortet nicht.
Wir gehen wieder auf unser Zimmer, können aber beide nicht einschlafen und reden im Dunkeln. Ich erzähle Gabriele von der Schweiz, berichte von Signora Maikes Töchtern, die plötzlich aufgetaucht sind, von Signora Rechas grauen Haaren und von Bertholds neuester Leidenschaft, dem Diskuswerfen. Ich rede immer noch, als ich merke, dass Gabriele eingeschlafen ist. Ich tue kein Auge zu, bleibe die ganze Nacht wach. Liegt man in meinem Bett auf dem Rücken, kann man die Hügel und Weinberge sehen. Ich verfolge, wie die Sonne aufgeht, wie die tief dahinziehenden Wolken ihre Farbe und Form wechseln. Im Morgengrauen stehe ich auf, wasche leise Gesicht und Achseln. Ich gehe barfuß durch das mir fremde Haus. Die Fliesen sind alt und verkratzt. Ich beobachte eine Spinne, die zwischen Kommode und Fensterbank ihr Netz spinnt. Auf dem Pflaster vor der Haustür schleppt eine einzelne Ameise eine tote Wespe, während die anderen Krümel und Grashalme transportieren.
Ich decke den Frühstückstisch: Milch, Brot und Butter für alle. Tassen, Messer, Teller. Ich setze mich und warte schweigend, bis die anderen aufwachen, während sich das Licht von Weiß in Gelb verwandelt.
Dass unser Vater tot ist, eröffnen uns Großvater, Onkel und unsere Mutter vormittags im Wohnzimmer, ohne dem noch etwas hinzuzufügen. Als Gabriele wissen will, wie er gestorben ist, wechseln sie das Thema. Dass er sich umgebracht hat, erfahren wir nur durch Zufall, am Tag der Beerdigung, als wir die halb verschluckten Sätze der Erwachsenen aufschnappen, die sich in Wohnzimmer oder Küche unterhalten. Dort haben sich Freunde und Verwandte versammelt, die wir noch nie gesehen haben. Er hat sich vergast. Ich male mir die Szene aus, ich kann einfach nicht anders. Ich stelle mir vor, wie er von der Arbeit nach Hause kommt, während Gabriele und unsere Mutter bei Großvater auf dem Land sind. Er zieht seine Schuhe aus, öffnet den obersten Hemdknopf, dreht den Gashahn auf, legt den Kopf auf die Tischplatte, damit ihn das Gas schneller erreicht, schließt dann die Augen und denkt an seinen Schreibtisch im Büro. Sein Nachfolger wird alles perfekt geordnet vorfinden.
Ich stelle mir vor, dass er noch in den Bergen lebt, noch mit Ioles und Marias Vater durch Colle Ferro läuft. Ich stelle mir vor, dass ich ihm in der Straßenbahn begegne. Er will eine Fahrkarte lösen, aber der Kontrolleur sieht ihn nicht und zündet sich eine Zigarette an. Ich stelle mir vor, dass er auf der Suche ist, auf der Suche nach seiner Familie, sie aber nicht findet. Dass er das Haus betritt und die Pförtnerin fragt, die ihm aber nicht antwortet. Dass er die Treppen hinaufgeht und sämtliche Namensschilder an den Türen liest. Dass er klingelt, als er das unsere gefunden hat. Aber als wir aufmachen, ist niemand da. Unsere Mutter ist wütend und sagt: »Das ist doch die Höhe, schon wieder so ein dummer Streich.« Über das Treppengeländer gebeugt ruft sie: »Früher oder später erwische ich dich, verlass dich drauf!« Sie geht zurück in die Wohnung und knallt die Tür hinter sich zu.
Ich höre auf zu malen, weigere mich zu kochen.
3. KAPITEL
Unter den Bergwiesen befand sich eine Lehmschicht, die bis unter die Eschen hinterm Haus reichte. Zwischen den Bäumen war die Erde fett und feucht, und auf Felsen und Wurzeln gedieh mattgrünes Moos. Strich man mit geschlossenen Augen darüber, war es, als streichelte man eine Katze. Ich gewöhnte mir an,
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