Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Chups.
»Was ist denn das für ein Zeug?«
»Die Bäckersfrau hat sie mir geschenkt.«
»Und wer bist du?« Die Mutter kam lächelnd auf mich zu. Sie trug Gartenhandschuhe, in einer Hand hielt sie Jäter und Blumenzwiebelpflanzer, in der anderen ein Samentütchen. Erde klebte an ihrer Wange. »Ist das ein Freund von dir, Luna?«
»Nein.«
»Du heißt Luna?«, fragte ich.
»Und wie heißt du?«, wollte die Mutter wissen.
»Zeno.«
»Zeno, das kommt von Zeus, weißt du das? Stammst du aus dem Veneto?«
»Aus Capo Galilea, Sizilien.«
Die Mutter stemmte die Hände in die Hüften, genau wie ihre Tochter am Vortag. »Sizilien? Und du heißt Zeno? Das ist aber nicht sehr sizilianisch.«
»Wegen dem Gewissen.«
»Du meinst das Buch?«
»Mein Opa Carmelo mochte es sehr.«
»Gut«, sagte sie. »Zum Glück haben sie dich nicht Italo genannt.« Sie lachte, und es war, als hätte sich ein Schwarm Reiher in die Lüfte erhoben. Luna hatte mich währenddessen nicht aus den Augen gelassen. »Bitte ihn doch herein!«, sagte ihre Mutter und ging zurück zum Haus. »Los, Zeno, komm, ich habe Limonade gemacht.«
Luna rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ihre Augen waren zwei schmale Schlitze.
»Darf ich?«, fragte ich.
Schweigend streckte sie die Hand aus und drückte den Türöffner. Ich betrat den Garten.
Damals wusste ich noch nicht, dass Luna und ich für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben würden, zumindest haben wir das vor. Nun, man wird sehen, die Menschen entwickeln sich weiter, verändern sich, und es ist nicht leicht, diesen Prozess harmonisch zu gestalten. Aber wir wollen es auf jeden Fall versuchen.
Wenn ich lange aufbleibe und bis spät in die Nacht zeichne, wenn ich dann ins Bett gehe und eine mit einem Buch in der Hand eingeschlafene Luna vorfinde, während das Licht noch brennt, möchte ich um nichts in der Welt darauf verzichten, ihr das Buch aus der Hand zu nehmen und neben das Brillenetui auf den Nachttisch zu legen. Die Nachttischlampe zu löschen und im Dunkeln unter der Bettdecke nach ihren Händen und Füßen zu tasten. Morgens als erstes Lebewesen sie zu erblicken (von Hashi, unserer Katze, einmal abgesehen, aber die kann man kaum als Lebewesen bezeichnen). Mit ihr Pläne für Urlaub und Freizeit zu schmieden, sie bei den Comicfestivals von Angoulême und Lucca sowie auf der Comic-Con in San Diego an meiner Seite zu wissen, auch wenn Luna nicht die geringste Ahnung von Comics hat (als Wissenschaftlerin forscht sie über die altersbedingte Makuladegeneration der Netzhaut, die zur Erblindung führen kann).
Damals wusste ich noch nicht, dass wir uns nach jenem Sommer sechs Jahre nicht sehen würden, um uns dann mit achtzehn zufällig am Bahnhof von Florenz zu begegnen und uns sofort wiederzuerkennen: ich mit dem Ziel Gubbio, wo ich einen Intensivkurs im Comiczeichnen mit Ehrengast Jiro Taniguchi belegt hatte, sie unterwegs nach Chianti, wo sie eine Klassenkameradin besuchen wollte. Dass wir beide unsere Züge verpassten, weil wir so ins Gespräch vertieft waren, weiß ich nicht mehr, nur, dass es anregend war und in einem Café vor dem Bahnhof Santa Maria Novella stattfand. Dass ich nach dem Intensivkurs nicht wie geplant nach Capo Galilea zurückkehren, sondern sie besuchen würde, woraufhin meine Mutter getobt hatte wie noch nie in ihrem Leben. (Dem muss ich allerdings hinzufügen, dass ich dort auf ihre Kosten und die ihrer Freundin lebte, und zwar zwanzig Tage lang: Jeder Cent meiner Ersparnisse war in den Intensivkurs geflossen.) Damals wusste ich auch noch nicht, dass ich dort in der Toskana zum ersten Mal Sex haben würde. Und ebenso wenig, dass ich beschließen würde, auf der Accademia di Brera Kunst zu studieren, um in ihrer Nähe sein zu können, denn Luna und ihre Eltern lebten in Mailand. Dass wir eines Tages mit Freunden von ihr essen gehen würden, zu denen auch Roberto Crocci zählte, ein Student der Literaturwissenschaften und Philosophie mit einer Leidenschaft für Comics und Bühnenbild, mit dem ich später Shukran aus der Taufe heben würde.
Damals wusste ich noch nicht, dass Luna und ich eines Winterabends streiten und ich die Trattoria in den Bergen, in der wir uns mit Freunden getroffen hatten, türenknallend verlassen würde. Dass ich im Dunkeln eine Serpentinenstraße hinunterrasen, auf einer Eisplatte ins Rutschen geraten und mit dem Auto gegen eine Tanne fahren würde. Ich brach mir einen Arm und die
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