Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Ziegen melkt. Wie er damals Steinchen an ihr Fenster geworfen hatte, damit sie auf dem Monticello gemeinsam nach Flugzeugen Ausschau hielten – ich biss mir auf die Zunge, um keinen Überraschungslaut auszustoßen, als ich diesen Namen hörte. Wie die Deutschen ihren Vater und meinen Urgroßvater mitgenommen hatten, wie Großvater und sein Bruder ihn gerettet hatten, indem sie ihn gegen eine Stange Zigaretten eintauschten. Ihr Vater dagegen sei nicht mehr zurückgekehrt.
Iole wandte sich ab und wischte sich über die Augen.
Ich hörte auf zu kneten.
»Großvater hat einen Bruder?«, fragte ich.
»Er hatte einen. Aber er lebt nicht mehr.«
Sie nahm eine Handvoll Leinsamen, die sie in einer Schale eingeweicht hatte, und gab sie zu ihrem und meinem Teig. Wir kneteten sie unter.
»Hast du meine Großmutter gekannt?«
»Ja.«
»Wie war sie so?«
»Sie war eine fantastische Frau: fröhlich, witzig, intelligent.«
»Iole …«
»Ja?«
»Ach, nichts.«
»Sag schon!«
»Es ist nicht so wichtig.«
»Zeno …«
»Warum haben sie sich zerstritten?«, fragte ich und konzentrierte mich darauf, die Leinsamen gleichmäßig unterzukneten. »Mama und Großvater, meine ich.«
Iole ging zum Ofen und machte ihn an, hantierte mit den Drehknöpfen. »Ich glaube, das sollten sie dir lieber selber erzählen.«
»Manche Fragen bringt man nur schwer über die Lippen.«
»Manche Antworten ebenfalls. Und manchmal, Zeno, gibt es gar keine.«
»Aber die Erwachsenen müssen doch Antworten haben! Das ist ihr Job.«
»Wer hat dir das denn erzählt?«
»Don Luciano.«
»Don Luciano macht es sich ein bisschen sehr leicht, mein Lieber.«
»Viel Macht bringt auch viel Verantwortung«, sagte ich.
»Und von wem stammt das?«
»Was?«
»Ist das auch von Don Luciano?«
»Nein. Von Spiderman.«
Einige Tage später entdeckte ich auf der Bank die zwei übrig gebliebenen Alten. Seit der Beerdigung hatte ich sie nicht mehr gesehen. Einer von ihnen trug Anselmos Hut. Ich ging zu ihnen und sprach ihnen mein Beileid aus.
»Danke«, sagte der mit der Zeitung.
»Das ist sehr nett von dir«, sagte der andere und nahm den Hut ab.
Ich blieb stehen, um mit ihnen zu plaudern. Sie erzählten mir, dass Anselmo früher mit ihnen zum Lernen in den Wald gegangen sei, zumindest im Frühling. Dass sie im Winter gemeinsam Hausaufgaben neben dem Ofen gemacht hätten. Sie berichteten, dass er mit seiner Familie in ein Haus ohne elektrisches Licht gezogen sei, von seiner Leidenschaft für Petroleumlampen. Dass Anfang des Krieges viele Menschen evakuiert worden seien und dass einer mit seinen Eltern sein Haus verlassen habe, um es Juden zur Verfügung zu stellen, und solange bei Anselmo gewohnt habe, zusammen mit den Tanten, Onkeln und einem Cousin seines Vaters, einem Architekten. Dass sie aus Angst vor einer Razzia in den Wald geflohen und vom Nebel gerettet worden seien. Dass die Deutschen die Männer des Dorfes deportiert hätten. Dass sie ohne Fahrkarte mit dem Zug nach Piacenza gefahren seien, während ihre Beine aus dem Waggon baumelten, und dass es damals noch ein Bremserhaus gegeben habe, weil manche Waggons einzeln von Hand gebremst werden mussten. Dass Anselmo einmal ein Dorffest organisiert habe, um Mädchen kennenzulernen, auf dem er dann tatsächlich seiner späteren Frau über den Weg gelaufen sei.
Je mehr sie erzählten, desto mehr leuchteten ihre Augen.
Inzwischen waren auch Luna und Isacco dazugekommen und hatten sich hingesetzt, um zuzuhören.
»Wer weiß, wo er jetzt ist?«, sagte der Mann mit der Zeitung.
»Nirgendwo«, erklärte der mit Anselmos Hut.
»Meinst du? Das glaube ich nicht. Es wäre zu simpel, sich einfach so verdrücken zu können. Bei all der Schuld, die wir uns zu Lebzeiten aufladen.«
»Das Beste wäre, gar nicht erst zu sterben«, sagte Isacco.
»Das Beste wäre wiederaufzuerstehen«, warf ich ein.
»Wie unser Herrgott?«, meinte der Mann mit Anselmos Hut.
»Nein, eher so wie Phoenix. Oder wie Jason Todd. Jesus mag zwar wiederauferstanden sein, aber anschließend hat ihn niemand mehr gesehen. Ich will die Leute sehen.«
»Man bräuchte eine Quelle des ewigen Lebens. Vielleicht stimmt die Geschichte ja doch, die Anselmo erzählt hat.«
»Welche Geschichte?«
»Das ist eine alte Legende«, antwortete der Mann mit dem Hut. »Unter jedem Stein, den du umdrehst, findest du zwei davon.« Sein Mund kräuselte sich zu einer Art Lächeln. »Angeblich soll es in den Grotten am Ortseingang eine Quelle geben. Wer
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