Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
hinausgeschafft haben.«
»Ist sie ertrunken?«
»Das ist nur so eine Geschichte, Zeno. Die Täler hier sind voll davon.«
»Opa Melo sagt, dass alle Legenden einen wahren Kern haben. Wozu sich sonst die Mühe machen, sich so einen Blödsinn auszudenken?«
»Geister gibt es bestimmt keine. Glaubst du an Geister?«
»Ich? Nein.«
Das Auto hielt vor dem Haus, ohne Staub aufzuwirbeln, als Großvater gerade seine Hosen und meine T-Shirts auf die Nylonleinen hängte, die er zwischen Hauswand und einer gegabelten Metallstange gespannt hatte. Eine Frau mit weißem Haar und zwei großen Jutetaschen stieg aus. Durch das Wagenfenster bedankte sie sich bei ihrem Fahrer, und nachdem sie sich hochzufrieden umgesehen hatte, wie jemand, der feststellt, dass in seiner Abwesenheit nichts Schlimmes passiert ist, schaute sie zu Großvater hinüber und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Ich saß auf der Bank, hatte ein Stück Pappe auf einen Stuhl gelegt, dessen Sitzpolster ich entfernt hatte, und zeichnete gerade die aus Geröll und Flammen bestehende Explosion hinter Captain America fertig. Ich legte den Bleistift weg. Großvater fuhr damit fort, Wäsche aufzuhängen, reagierte aber mit einem Lächeln.
»Wenn du die beiden Taschen mit dem Essen, das ich für dich gekocht habe, hineinträgst, würdest du mir einen großen Gefallen tun, alter Freund.« Dann entdeckte sie mich. Vor Staunen blieb ihr der Mund offen stehen. »Zeno.«
Ich wurde sofort hellhörig.
Großvater nahm ihr die Taschen ab. »Du bist wieder da, endlich!«
»Hör mal, mein Freund, ich war doch nur wenige Monate weg.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Und du?«, sagte sie zu mir. »Wo kommst du denn auf einmal her? Lass dich ansehen …«
Ich erhob mich und schaffte es nicht mal, Guten Tag oder Hallo zu sagen, als ich schon von ihren weichen Armen umfangen wurde. Wenn sie eine so enge Freundin von Großvater war, hatte sie bestimmt meine Fotos im Haus gesehen. Sie fuhr mir durchs Haar und hob mein Kinn, um nach Ähnlichkeiten zu forschen.
»Du hast die Augen deines Großvaters.«
»Finden Sie?«
»Du darfst mich duzen. Ich heiße Iole.«
»Findest du?«
Sie trat einen Schritt zurück, um mich genauer zu mustern. »Ich will alles wissen.«
Großvaters Stimme drang durch das offene Fenster: »Wenn ihr reinkommt, können wir essen, und dann erkläre ich dir alles.«
Es dauerte die ganze Mahlzeit, kurz zusammenzufassen, wie mein Vater ins Krankenhaus gemusst, wie die Klinik sich geweigert hatte, mich aufzunehmen, und so weiter. Aber zwischen den Wörtern bildeten sich Lücken, Luftblasen, um die er sich in meiner Abwesenheit kümmern würde. Dinge, von denen ich nichts mitbekommen sollte.
Iole kam und blieb. Sie besaß zwar ein Haus im Dorf, aber pünktlich zum Mittagessen erschien sie mit einem gattò di patate hinter der Kurve, mit einer torta pasqualina oder mit einer crostata di mele e pinoli . Großvater und sie zogen sich oft zurück, um zu reden. Sobald der Tisch abgeräumt und die Teller gespült waren, setzten sie sich vors Haus und schauten ins Tal. Sie konnten es ewig betrachten. Auch die Spaziergänge waren ihnen allein vorbehalten. Ich begleitete sie nicht. Zwischen ihnen herrschte eine Intimität, in die ich nicht eindringen wollte.
Traf Iole mich im Dorf, bat sie mich, ihr im Haushalt zu helfen, zum Beispiel auf eine Leiter zu steigen und eine Dose vom obersten Regalbrett zu holen. Oder mich zu bücken, um zu gucken, ob der vermisste Schlüssel unters Sofa gerutscht war. Bei ihren Rückenschmerzen sei es schon mühsam genug, sich auf den Beinen zu halten. Eines Abends fragte sie mich, ob ich ihr beim Brotbacken zur Hand gehen könne. Großvater möge nämlich lieber Vollkornbrot als das von Rosa – Worte, in denen Befriedigung mitschwang. Deshalb wäre es schön, wenn ich lernte, welches zu backen. Trotz meiner Familie hatte ich so gut wie kein Interesse am Kochen, und nie im Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, für Großvater Vollkornbrot zu backen. Aber ich brachte nicht den Mut auf, ihr das zu sagen, und willigte ein. Während sie Brotlaibe formte und im Hintergrund das Radio lief, erzählte sie mir von ihrer Kindheit, von der Zeit, in der Großvater hier gelebt hatte, zwischen 1943 und 1945. Sie erzählte, wie sie unter Farnwedeln gespielt und so getan hatten, als besäßen sie eine feine Villa. Wie sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester oben auf dem Servo die Tiere gehütet und Großvater gezeigt hatten, wie man
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