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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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entglitten, sodass das Brot und die Grissini in den Schmutz fielen. Ein Krankenwagen wurde gerufen, der umgehend kam, aber es war schon zu spät; es konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Er war seit zehn Jahren Witwer. Sein Nachbar bot an, die Söhne zu verständigen. Er fand ihre Telefonnummern auf einem Zettel in der Küche, direkt über dem Telefon: Einer lebte in London, der andere in Brescia.
    Wir kamen gerade vom Brombeer- und Erdbeersuchen zurück, als wir die Piazza erreichten. Die Leiche war soeben abtransportiert worden, das Martinshorn noch zu hören. Signora Rosa, die uns völlig verstört in ihrem amarantfarbenen Kittel entgegenlief, so als wollte sie sich vor einem kalten Wind schützen, den es gar nicht gab, erzählte uns, was passiert war.
    Luna schlug die Hand vor den Mund.
    »Und ich hab ihm mal seinen Hut geklaut!«, sagte Isacco. »Wenn ihr gesehen hättet, wie er nach ihm gesucht hat! Er ist fast verrückt geworden.« Und dann: »Was bin ich nur für ein Arschloch.«
    »Er war vorhin noch bei mir«, erzählte Rosa. »Ich hatte ihm die Grissini zurückgelegt, die er so gern mochte.«
    »Es wird an den Grissini gelegen haben«, meinte Isacco und seufzte dramatisch.
    Luna versetzte ihm einen Stoß zwischen die Rippen, aber seine Tante hatte nichts gehört. Sie war ganz in Gedanken versunken. »Man rechnet einfach nicht damit, dass Menschen einfach so verschwinden«, sagte sie. »Dass man den Kunden, mit dem man sich auch nicht anders als sonst über irgendeine Boulevardschlagzeile unterhalten, ja zu dem man noch eine blöde Bemerkung über den vielen Zucker in seinem Kaffee gemacht hat, nie mehr wiedersehen wird.« Rosas Augen waren riesengroß geworden: die Augen einer Hellseherin. »Aber man kann schließlich nicht bei jeder Begegnung denken, dass es die letzte sein könnte!« Sie zog ein Taschentuch hervor, wischte sich damit über das Gesicht und sah uns an. Dann verdrehte sie die Augen. »Aber was rede ich da für einen Unsinn? Und mit wem rede ich überhaupt? Entschuldigt, aber ich bin wirklich senil!« Mühsam die Tränen unterdrückend, rannte sie davon.
    Zwei Tage später fand die Beerdigung statt. Dabei erfuhr ich, dass der Alte Anselmo hieß. Ganz Colle Ferro war zugegen, sogar Großvater. Aber er hielt sich abseits, versteckte sich im Schatten der Kapelle. Hätte er nicht einen weißen Hemdkragen gehabt, der das Licht bündelte, das durch die Bogenfenster fiel, hätte man ihn glatt übersehen.
    Die belegte Stimme des Pfarrers folgte der Liturgie, und ich, der ich auf einer Kniebank des Beichtstuhls saß, bekam nur ungefähr jedes fünfte Wort mit. Bis seine Predigt plötzlich meine Aufmerksamkeit erregte.
    »Es gibt keinen Anfang und kein Ende«, sagte er, »nur sich verwandelnde Moleküle: Denken wir bloß an das Wasser. Es verdampft und bildet Wolken, die dann in Form von Regen auf die Erde zurückkehren. Bevor es das Meer erreicht, kann es kondensieren und Tausende Male herabregnen. Einige Moleküle verflüchtigen sich sofort, andere sickern ins Erdreich ein oder schlüpfen zwischen den Felsen hindurch. Im Winter wird das Wasser zu Schnee, am Morgen zu Nebel, im Frühling zu Regen. Wird es zu Hagel, beschädigt es das Obst an den Bäumen. Wird es von Blättern aufgefangen, erreicht es nicht den Boden. Und ihr, liebe Gemeindemitglieder, die ihr wie Anselmo schon ewig hier lebt und die Legenden kennt, wisst das besser als ich. Es sind die gleichen Gedanken, die auch das Geistermädchen hat, wenn es im See schwimmt und das Dorf über die Wasseroberfläche hinweg beobachtet. Es schwimmt wie ein Frosch, das Geistermädchen. Es bewegt beide Arme symmetrisch zur Seite, dicht an der Wasseroberfläche, wobei seine Handflächen nach außen zeigen und die Beine einen Kreis beschreiben. Es streckt sie und winkelt sie wieder an, streckt sie und winkelt sie wieder an, als betete es einen Rosenkranz. Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt im Leben, für gar nichts, außer um zu sterben. Und auch keine richtige Art zu sterben.«
    Nachdem die Leute aus der Kirche geströmt waren, fragte ich Großvater, ob er auf die Predigt geachtet habe.
    »Sie war ketzerisch«, sagte er. »Aber sie hat mir gefallen.«
    »Er hat von einem Geistermädchen gesprochen …«
    »Das ist nur so eine Legende. Anselmo war verrückt nach solchen Geschichten. Angeblich soll beim Fluten des Stausees ein Mädchen zurück ins alte Haus geschlichen sein, um eine vergessene Puppe zu holen, und es dann nicht mehr rechtzeitig

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