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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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erreicht es über einen speziellen Lift, für den man einen Schlüssel braucht. Ich war noch nie im dritten Stock. Der Inhaber empfängt uns in einem Tweedjackett und weist uns den Weg. Er zeigt Schnellinger die Entwürfe und Pläne. Nach einer Stunde kommt er zu mir: »Sagen Sie allen, sie sollen nach Hause gehen.«
    »Wem?«
    »Sämtlichen Angestellten, Sekretärinnen, Designern. Allen. Ich möchte, dass das Gebäude in zwanzig Minuten leer ist.«
    Ich gehorche. Ich laufe durch die Büros und sage, man möge sich den Rest des Tages freinehmen. Ich kehre zurück, suche nach dem Firmeninhaber und Schnellinger, kann sie aber nicht finden. Dann höre ich Schüsse: aus einem Maschinengewehr, aus Pistolen, Gewehren. Die Schüsse hallen ganz in der Nähe zwischen den Wänden wider, sie wurden direkt im Gebäude abgefeuert. Ich folge dem Geknalle und sehe, dass der Schlüssel zum Privatlift steckt. Ich betrete den Lift, drücke auf den Knopf zum dritten Stock. Dort befindet sich ein Schießstand. Mein Arbeitgeber ist ein Waffennarr. Schnellinger und er haben Ohrenschützer auf, sie lachen, trinken und rauchen. Sie tauschen Waffen. Sie reden über Automatik- und Halbautomatikwaffen, vergleichen sie miteinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
    Ich beobachte sie schweigend. Auf einmal ist mir, als hätten sie verquollene Augen, rot gefrorene Wangen, einen ausrasierten Nacken. Sie sind sehr jung, sie machen mir keine Angst. Ich sehe, wie Gabriele beiden die Stange Zigaretten anbietet, im Tausch gegen unseren Vater. Der Firmeninhaber hat eine Wunde an der Lippe, er wirkt unglaublich müde. Er wirft einen Blick auf Schnellinger und einen in Richtung Zugführer. Kurz vor der Kurve reißt er Gabriele die Stange Zigaretten abrupt aus der Hand und stößt unseren Vater in ein Gebüsch.
    »Sie können gehen«, sagt er.
    Der Firmeninhaber redet mit mir. »Meinen Sie mich?«, frage ich.
    Er zeigt zur Tür. »Gehen Sie.«
    Ich bedanke mich und gehe. Ich fahre nach Hause, zu Elena, die einen Himbeerkäsekuchen bäckt. Im Radio läuft klassische Musik. Als ich die Wohnung betrete, kommt sie mir entgegen, umarmt mich mit abgespreizten Händen, um mich nicht mit Teig zu bekleckern. Ich erwidere ihre Umarmung und lasse sie nicht mehr los. Sie versucht, sich von mir zu lösen, aber ich erlaube es ihr nicht.
    »Was ist?«, fragt sie.
    Ich schweige. Wir bleiben im Flur stehen, wie lange, kann ich nicht sagen.
    Elena umarmt meinen Rücken mit den Unterarmen, der Teig tropft von ihren Händen auf den Boden. Ich bin auf hoher See, klammere mich an einen Baumstamm. Als wir später auf dem Bett sitzen, erzähle ich ihr von Schnellinger und dem Firmeninhaber, von den Waffen und dem Krieg. Bisher habe ich Elena nie viel vom Krieg erzählt. Nur von der Flucht nach Frankreich, von unserem Untertauchen in Colle Ferro, aber nicht mehr: keine Episoden, keine Erinnerungen, keine Anekdoten.
    An diesem Abend erzähle ich ihr von der Stange Zigaretten, von dem Wald aus toten Beinen und von den Deutschen, die unseren Vater mitgenommen haben. Und denke dabei, dass es höchste Zeit wird, meine Erinnerungen zu ordnen. Ich esse nichts zu Abend, gehe gleich ins Bett. Als Elena mich weckt und mir ein Stück Kuchen anbietet, ist es mitten in der Nacht. Wir trinken Kamillentee.
    »Was wirst du tun?«, fragt sie.
    »Das weiß ich noch nicht. Ich muss darüber nachdenken.«
    Es ist kurz vor Tagesanbruch, ich habe kein Auge zugetan. Elena schläft neben mir. Plötzlich falle ich durch die Matratze. Ich reiße Laken und Decke mit, die Steppdecke ist riesengroß, eine rote Wand, die mich daran hindert, den Brunnenschacht hochzuklettern, in den ich stürze. Oben, im kleiner werdenden Lichtrechteck, erkenne ich Gesichter. Sie werfen mit Erde und Blättern, vergießen Wein. Sie werfen alles dorthinein, denn das ist mein Grab. Sie lassen mich in die Grube hinunter. Aber ich fühle mich nicht unwohl dabei, es ist ganz normal.
    Am nächsten Tag wache ich spät auf. Elena hat mich schlafen lassen. Ich gehe nicht zur Arbeit, bleibe im Bett. Ich esse noch mehr Kuchen, trinke Milch. Ich beschließe, auch am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu gehen.
    Das Telefon klingelt, aber ich gehe nicht dran. Der zweite Tag vergeht wie der erste, in geistiger Umnachtung, voller Erinnerungslücken. Elena hat ihre Bibliothek zu uns nach Hause geholt: Gullivers Reisen, Robinson Crusoe, Der Herr der Ringe . Ich lese den ganzen Tag. Ich suche nach anderen Orten, an denen ich leben kann. Am dritten

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