Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
Vom Netzwerk:
verloren im Leben, jetzt wolle sie sich nicht auch noch von ihren Erinnerungen trennen. Ich solle mein eigenes Leben leben und auf sie keine Rücksicht nehmen.
    An einem Wochenende besuche ich sie zusammen mit Elena. Nach dem Mittagessen unternimmt Elena einen Spaziergang, damit wir allein sein können. Wir sitzen in der lauwarmen Sonne, die durch die Bäume fällt und Lichtflecken auf den Balkon des Zimmers wirft, das wir nur die Voliere nennen: Großvaters Zimmer. Kein Lüftchen regt sich, und auch sonst nichts im Haus. Wir tragen zwei Tassen mit Tee aus der Küche und einen Teller mit Kokoskeksen.
    »Ich hätte wirklich gern, dass du nach Turin ziehst«, sage ich.
    »Darüber haben wir bereits gesprochen.«
    Sie nippt an ihrem Tee. »Dieses Haus ist voller Gespenster. Und die brauchen mich genauso wie ich sie.« Sie nimmt einen Schluck, der Tee ist kochend heiß, sie pustet hinein. Dann sieht sie mich an. Meine Mutter hat wunderschöne Augen. »Siehst du sie nicht?«, fragt sie.
    Als es Zeit wird zu gehen, zieht sie sich an und verlässt mit uns das Haus. An der Ecke zu einer Straße, die ans Meer führt, sagt sie, sie habe keine Lust, uns bis zum Bahnhof zu begleiten. Ob es uns etwas ausmache, wenn wir uns hier verabschieden? Wir umarmen uns. Ich sehe ihr nach, während sie dicht an den Hauswänden entlang den Heimweg antritt.
    Elena und ich machen halt bei einem Bäcker und kaufen focaccia für die Zugfahrt. Ich stecke die Hand in die Tasche, um den Geldbeutel herauszuholen, und spüre etwas Rundes, Glattes. Ich ziehe es hervor: Es ist ein Lederball.
    »Ich muss noch mal zurück«, sage ich zu Elena.
    »Wohin?«
    »Ich muss zurück zu meiner Mutter.«
    »Simone, der Zug geht in zwanzig Minuten.«
    »Wir sehen uns am Bahnhof!«, rufe ich und bin schon losgerannt. Ich erreiche unser Haus, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich klingle. Ich eile die Treppe hinauf, nehme drei Stufen auf einmal.
    Meine Mutter erwartet mich an der Tür. »Hast du was vergessen?«
    »Hast du mir den Ball in die Tasche gesteckt?«
    »Welchen Ball?«
    Ich zeige ihn ihr. »Hast du ihn mir in die Tasche gesteckt?«
    Sie nimmt ihn mir aus der Hand und berührt ihn wie einen kostbaren Gegenstand aus einer anderen Welt. »Wo hast du den denn gefunden? Ich dachte, ich hätte ihn verloren.«
    *
    Wir heiraten standesamtlich. Elenas Familie ist nicht nur nicht jüdisch, sondern auch nicht religiös. Ihr Vater bezeichnet sich als Agnostiker, ihre Mutter als Atheistin, sie sich als gar nichts. Sie denkt nach. Von nun an werden wir gemeinsam nachdenken. Meine Trauzeugen sind Tommaso Rey und Gioele. Als ich versuche, Tommaso telefonisch zu erreichen, haben wir seit zwei Jahren nichts mehr voneinander gehört.
    »Hast du denn sonst niemanden?«, fragt er verblüfft.
    »Wenn du nicht willst, kannst du auch ablehnen.«
    »Soll das ein Witz sein?«
    Ich warte im Rathaussaal auf sie. Beide treffen gleichzeitig ein. Ich gehe ihnen entgegen: »Danke, dass ihr gekommen seid.«
    Tommaso sieht sich um. »Wie funktioniert das hier?«
    »Ganz einfach: Erst wird der Trauspruch verlesen und dann der Ehevertrag unterschrieben.«
    Tommaso steckt die Hände in die Hosentaschen und nickt: »Ein Vertrag, gut so! Die Ehe muss man vertragen oder ertragen wie eine Krankheit.«
    Nach der Trauung essen wir fritto misto in einer Trattoria in den Hügeln. Meine Mutter versteht sich hervorragend mit Elenas Mutter, und darüber bin ich froh. Die Flitterwochen bestehen aus einer Nacht in einem Chalet am Fuß des Mont Blanc.
    Für mich beginnt das Pendeln, aber das macht mir nichts aus. Der Zug ist ein Ort, der zu mir passt. Ich kann mich in der an mir vorbeiziehenden Realität verlieren: Häuser, Lichter, Felder. Ich kann die Spuren der Regentropfen auf der Scheibe verfolgen, ein Buch lesen. Im Zug ist man im Nirgendwo: Man ist Bewegungsenergie, Vergangenheit und Zukunft, aber niemals Gegenwart.
    Eines Tages ruft mich ein früherer Vorgesetzter an, der die Firma gewechselt hat. Er arbeitet inzwischen für einen kleineren Betrieb, den er als sehr solide beschreibt. »Wir produzieren Reifen für Autos und Traktoren, wollen aber auch Autos bauen«, erklärt er. »Richtige Autos, nicht bloß Reifen. Ich brauche einen Leiter für Arbeitsabläufe. Der Firmensitz ist in Turin, und da habe ich an dich gedacht.«
    Nachts habe ich Albträume, ich kann nichts mehr essen, mich nicht mehr konzentrieren. Zweimal verpasse ich den Zug. Ich vertraue mich Gioele an, der sagt: »Nimm das

Weitere Kostenlose Bücher