Der Sommer auf Usedom
Windverhältnissen. Vor Jasmins geistigem Auge entstanden Bilder: ein stolzer Viermaster mit einem Kapitän an Bord, der pfeifend an der Reling stand und nicht bemerkte, dass weiter hinten am Heck einer seiner Männer das Loch in einer Socke stopfte. Ja, das würde sie malen! Sie musste ihre Körperhaltung ändern, denn sonst würden ihre Arme bald einschlafen. Außerdem hatte ihr Rücken bestimmt schon genug Sonne abbekommen.
Während sie sich drehte, meinte sie aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung zu sehen. Sie schaute zur Seite, doch da war nichts. Nur eine violette Strandmuschel, die vorhin schondort gewesen war, eine Familie, deren Kinder ihren Vater gerade der Länge nach im Sand vergruben. Lediglich sein Kopf und seine Brust waren noch zu sehen. Jasmin seufzte behaglich. Genau so musste Urlaub sein. Alles war so friedlich. Es fühlte sich an, als wäre das Leben hier mindestens zwei Umdrehungen langsamer als zu Hause in Berlin. Sie steckte ihre Nase zurück ins Buch.
Kam es zu einem Todesfall an Bord, so durfte der Leichnam nicht länger als vierundzwanzig Stunden auf dem Schiff bleiben, las sie. Sonst würde die Reise um ein Vielfaches länger dauern, als es geplant war. Nein, aus diesem Aberglauben ließ sich kein Gemälde machen. Sie wollte lieber die Sitten und Gebräuche umsetzen als solche Ammenmärchen. Vor allem wollte sie sich nicht mit Toten beschäftigen, denn das brachte sie wieder auf den Mann, der kurz nach seinem Besuch des Streckelsberges verstorben war. Und das brachte sie unweigerlich zu Mister Tollpatsch. Sie blätterte weiter, da raschelte es plötzlich nicht weit von ihr. Sie blickte erschrocken zur Seite und sah gerade noch, wie ein Bein, das in einer Jeanshose steckte, hinter die violette Strandmuschel gezogen wurde, die gefährlich wackelte. Dann beruhigte sich der knallige Windschutz und stand schließlich wieder still da. Aber dahinter war jemand. War es der Mann mit dem braunen Haar? Vielleicht hatte er sie erkannt und sich daran erinnert, dass sie bei ihrer dritten Begegnung etwas miteinander trinken mussten. Womöglich war ihm diese Vorstellung nun doch nicht mehr angenehm. Oder ahnte er, dass sie ihn in Verdacht hatte? Schon einmal hatte Jasmin den Eindruck gehabt, er würde sie beobachten. Ihr Puls ging einen Takt schneller, die harmonische Atmosphäre war dahin. Immer wieder sah sie hinüber. Dann versuchte sie, sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren, aber ihre Augen glitten über die Zeilen, ohne dass ihr Gehirn auch nur die kleinste Episode aufnahm.
Irgendwann hatte sie es satt, die nachbarliche Strandmuschel zu beobachten. Sie packte ihr Buch in die Tasche, streckte sich aus und schloss die Augen. Entspann dich, sagte sie sich. Wennsich der Kerl hinter seinem violetten Sichtschutz verstecken wollte, dann sollte er es ruhig tun. Nach einer Weile meinte sie etwas gehört zu haben, öffnete ein Auge und blinzelte hinüber. Nein, alles ruhig. Sie klappte das Auge wieder zu. Allmählich kroch eine bleierne Müdigkeit in ihr hoch. Nachdem wieder eine Weile vergangen war, rieselten Sandkörner auf ihr Bein. Jasmin war beinahe eingeschlafen, bekam einen Schreck, richtete sich viel zu schnell auf und merkte, wie ihr schwindelig wurde. Als die Dunkelheit, die sie kurz umschlossen hatte, sich wieder verzog, sah sie gerade noch, wie der Mann neben ihr zusammenpackte. Dabei drehte er ihr den Rücken zu. Sie war sich nicht sicher. War es der mysteriöse Unbekannte? Schließlich ging er in die andere Richtung davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Die Größe kam einigermaßen hin, dachte sie, aber waren die Haare nicht länger gewesen? Auch der etwas behäbige Gang passte nicht, andererseits ließ es sich im weichen Sand schlecht laufen. Nein, das war er nicht. Sie musste endlich wieder Vernunft annehmen und aufhören, Gespenster zu sehen.
Peenemünde
»Willst du dir das wirklich antun?« Gabi sah sie über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Ich meine, Peenemünde ist beeindruckend und hochinteressant, keine Frage. Aber es ist auch düster und schrecklich bedrückend. Das ist doch nichts für einen schönen Sommertag.«
»Aber im Winter komme ich dich eben nicht besuchen.«
»Könntest du ruhig mal tun.«
»Okay.«
»Huch, das war einfach.« Die beiden lächelten sich an. »Ich meine das ernst«, setzte Gabi wieder an. »So weit ist es nicht von Berlin nach Usedom, und ich könnte dich gut mehr als einmal im Jahr hier haben.«
»Von Usedom nach Berlin ist es
Weitere Kostenlose Bücher