Der Sommer auf Usedom
angeblichen Versteck sucht, krk.« Sie zog mit der Handkante in einer schnellen Bewegung über ihren Kehlkopf. »Dann ist er erledigt. Das geht so lange, bis nur noch einer übrigbleibt.«
»Für deinen Tollpatsch kommt das aufs Gleiche hinaus, denn er ist mit Sicherheit nicht der, der übrigbleibt«, gab Gabi zu bedenken. »Auf jeden Fall steht fest, was du morgen vorhast.«
»Wieso?«
»Weil du zur Polizei gehst. Du hast den Kerl zweimal getroffen und kannst ihn beschreiben. Ich muss arbeiten.«
»Was soll ich denen denn erzählen? Dass ich glaube, ich kenne einen der Kunstdiebe?« Ihr war mulmig. Zwar war es genau das, was sie dachte, trotzdem waren die Indizien etwas dünn, um es vorsichtig auszudrücken. Außerdem musste sie feststellen, dass ihr der Gedanke, den Mann, der ein netter Urlaubsflirt hätte werden können, anzuschwärzen, gar nicht gefiel. Wenn sie auch fest überzeugt davon war, dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, wollte sie doch nicht diejenige sein, die ihn ans Messer lieferte. »Ich gehe lieber noch einmal auf den Streckelsberg und sehe mich ein wenig um. Wenn ich eine Spur finde, dann kann ich der Polizei wenigstens handfeste Beweise liefern.«
»Das wirst du schön bleibenlassen.« Gabi sah wirklich besorgt aus. »Wir sprechen immerhin nicht mehr nur von Kunstklau, sondern inzwischen auch von einem Toten!«
Die nächsten beiden Tage ließ Jasmin mehr oder weniger untätig an sich vorüberziehen. Sie las ein wenig und ging einmal bis zum Schmollensee und zurück.
»Na, wie war das Wasser?«, wollte Gabi wissen, als sie zurückkam.
»Ich bin nicht reingegangen. Das sah irgendwie so grün aus.« Sie zog die Nase kraus. »Außerdem kann ich in Berlin auch im See baden, hier will ich lieber in die Ostsee oder in eine schicke Therme.«
Gabi zuckte mit den Schultern und kümmerte sich wieder um ihre statischen Berechnungen.
Jasmin war schrecklich unentschlossen. Wäre es richtig, die Polizei zu informieren, oder würde man sie auslachen? Was, wenn sie ein Phantombild anfertigen ließ, und der sympathische Fremde wurde als gesuchter Verbrecher erkannt? Mit einem Mal fiel es ihr ein: Sie selbst konnte ein Phantombild von ihm malen. Und dann? Sollte sie damit zur Polizei gehen? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Am fünften Tag nach dem Regen ließ sie Gabi beim Frühstück wissen: »Heute lege ich mich an den Strand und bleibe in der Sonne, bis ich verführerisch rot gefleckt bin.«
»Guter Plan«, entgegnete sie und biss in ihr Vollkornbrötchen. »Da wäre ich zu gerne dabei, aber leider muss ich Monsieur Fromage seine Energiebilanz mit überdimensionalem Fenster auf der Nordseite seines Anbaus berechnen. Am liebsten würde ich ihm die Pläne um die Ohren hauen.«
»Das wäre nicht nett«, flötete Jasmin.
»Würde mir aber guttun.« Gabi zog eine Grimasse. »Hast du dir schon einen Strandabschnitt ausgesucht?«
»Ich dachte an Bansin, vielleicht in der Nähe der Seebrücke oder etwas weiter östlich. Mal sehen.«
»Dann wünsche ich dir einen schönen Tag!«
»Danke, dir auch. Und gutes Gelingen!«
Es waren nur rund sechs Kilometer bis zum Meer, also nahm Jasmin dieses Mal das Rad. Sie trug eine Caprihose und eine weite Bluse, die im böigen Wind flatterte. Ihre blonden Haare hatte sie unter einem Tuch versteckt, das sie vor einem Sonnenstich schützen sollte. Am Strand angekommen, suchte sie sich ein Plätzchen. Nicht zu nah am Wasser sollte es sein, denn dann rannte ständig jemand an ihr vorbei und sorgte dafür, dass sich Sand auf ihrem Handtuch verteilte. Und natürlich wollte sie niemandem zu nah auf die Pelle rücken. Sie lief eine ganze Weile unentschlossen umher, bis sie endlich einen Platz gefunden hatte, der ihr gefiel. Dort packte sie ihr Badelaken an zwei Ecken und schlug es mit großer Geste in die Höhe, so dass es vom Wind gebläht wie ein Segel langsam zu Boden gleiten konnte. Perfekt. Kaum ein Sandkrümelchen war darauf, das sie piesacken würde. Jasmin zog sich aus, cremte sich ein und holte ihr Buch über die Bräuche der Schiffer Usedoms hervor. Wenige Minuten nachdem sie zu lesen begonnen hatte, vergaß sie die Welt um sich herum. Durch Pfeifen konnten die Männer auf See den Wind anlocken, stand da, wenn er zu schwach war, um sie mit ihren Segelschiffen ordentlich voranzutreiben. Stand der Wind nicht günstig, dürfe man auf keinen Fall nähen oder etwas flicken, denn dann nähte man ihn womöglich mit fest, und es bliebe bei den unglücklichen
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