Der Sommer auf Usedom
übrigens genauso weit oder eben nicht weit«, gab Jasmin zu bedenken.
»Ich weiß, aber es zieht mich nichts mehr da hin.«
»Sehr nett, vielen Dank. Bin ich nicht Grund genug für einen Besuch?«
»Doch, das weißt du auch. Mir ist es trotzdem lieber, wenn du herkommst. Ich bin noch nicht so weit, wieder in Berlin zu sein. Außerdem ist hier auf der Insel viel bessere Luft und viel weniger Lärm.« Kaum dass sie es ausgesprochen hatte, pfiff der Wasserkessel heiser und durchdringend.
»Was die Luft angeht, hast du recht«, sagte Jasmin und schmunzelte. Gabi goss den Tee auf. Er duftete nach Vanille. »Istschon in Ordnung. Ich komme gerne her. Und wenn du willst, komme ich auch im Winter.« Nach einer kurzen Pause meinte Jasmin: »Trotzdem werde ich heute nach Peenemünde fahren.«
»Ich kann mir so etwas seit Thorstens Tod nicht mehr angucken«, erwiderte Gabi leise. »Alles, was mit Verlust und Leid zu tun hat, geht mir seitdem zu sehr an die Nieren.« Sie seufzte.
»Du vermisst ihn noch schrecklich«, stellte Jasmin fest.
»Wie am Tag seines Todes. Ich dachte, es wird mit den Wochen und Monaten leichter. Wenigstens mit den Jahren. Die Zeit heilt alle Wunden, sagen alle, aber das stimmt gar nicht.« Sie blickte ihrer Freundin in die Augen und sah so verloren aus wie selten.
Jasmin streckte die Hand nach ihr aus und strich ihr sanft über den Arm. »Und im Winter ist es bestimmt besonders schlimm«, sagte sie mitfühlend.
Gabi schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das gehört auch zu den Irrtümern, die dir alle auftischen. Es gibt kein besonders oder weniger schlimm, es ist gleichmäßig furchtbar. Es ist immer so, dass ich morgens nicht weiß, wie ich es ohne ihn durch den Tag schaffen soll, und abends hoffe, dass ich wenigstens von ihm träume. Gleichzeitig habe ich Angst davor, weil ich ihn am nächsten Morgen dann wieder loslassen muss. Daran gewöhne ich mich einfach nicht.« Sie seufzte erneut schwer. »Und täglich grüßt das Murmeltier«, brachte sie kläglich hervor und versuchte ein Lächeln. »Wobei das komödiantische Element in meiner Version leider zu kurz kommt.« Jasmin zerriss es schier das Herz. Ihre beste Freundin, die immer so stark wirkte, war alles andere als unverwüstlich. Und es gab nichts, womit Jasmin ihr helfen konnte. Gabi goss den Tee ein. »So ist es nun einmal. Und jetzt ist wieder genug gejammert«, stellte sie nach einem weiteren tiefen Atemzug fest. »Ich habe mir einen kleinen Schrein in meiner Seele gebaut. Mit allem architektonischen Schnickschnack, versteht sich. Darin bewahre ich meinen Kummer auf.« Sie hatte den Anfall von Traurigkeit abgeschüttelt, jedenfalls äußerlich.»Wie du gemerkt hast, findet er ab und zu den Weg nach draußen. Dann gönne ich ihm etwas Auslauf, bevor ich ihn wieder einsperre.« Sie ging mit ihrer Tasse in die Veranda an ihren Arbeitstisch. »Ich wünsche dir viel Spaß«, rief sie. »Mein Tagesvergnügen liegt darin, Monsieur Fromage die fünfzehnte Version für seinen Anbau zu zeichnen. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass das die letzte ist. Wenn ihm wieder etwas nicht passt, soll er sich einen anderen Architekten suchen«, rief sie.
Es war ein heißer Tag. Jasmin war nach der nur kurzen Fahrt in den an der nordwestlichen Spitze der Insel gelegenen Ort bereits völlig verschwitzt. Ihr erster Eindruck bestätigte, was Gabi gesagt hatte, es herrschte eine düstere, bedrückende Atmosphäre. Ein riesiger roter Backsteinbau, an dem sie kurz Halt machte, stand da wie ein Mahnmal aus einer Zeit, an die man lieber nicht erinnert werden wollte. Sie ging einmal um das Gebäude herum. Bäume und Gras wuchsen auf dem Dach eines halbhohen Anbaus, von einigen Stellen konnte man nach innen sehen. Ein gespenstischer Anblick: Betongerippe ragten in die Höhe, auf dem Boden lagen Steintrümmer. Das Grün, das sich hier dem massiven Material zum Trotz seinen Weg gebahnt hatte, konnte nur wenig trösten. Sauerstoff hatte man hier produziert, war auf einer Tafel zu lesen, der für Raketenstarts benötigt wurde. Die Anlage war von 1942 bis Kriegsende in Betrieb. Seitdem stand dieser Koloss also hier. Dass er inzwischen denkmalgeschützt war, konnte Jasmin nachvollziehen, dass in direkter Nachbarschaft zwei Einfamilienhäuser standen, machte ihr eine Gänsehaut. Lange hielt sie sich nicht auf, sondern setzte rasch ihren Weg fort und fuhr geradewegs zum Hafen. Der Blick über den Peenestrom zum Festland vertrieb die beklemmende Stimmung. Jasmin atmete
Weitere Kostenlose Bücher