Der Sommer auf Usedom
ich habe mich wirklich ein bisschen verliebt. Ich möchte ihn selbst fragen, ob er etwas mit der Sache zu tun hat. Dann hat er wenigstens die Möglichkeit, sich zu stellen.«
Gabi warf ihr einen langen Seitenblick zu. »Waren wir uns nicht einig, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass er etwas mit der Sache zu tun hat?«
»Unwahrscheinlich heißt nicht unmöglich.«
»Du weißt doch nicht einmal, wo du ihn erreichen kannst.«
»Ich kann in der Pizzeria fragen. Die wissen bestimmt, wo er wohnt.«
Wieder ein langer Blick, dann ein tiefer Seufzer. »Keine Ahnung, warum ich mich darauf einlasse. Vernünftig ist das nicht!« Gabi seufzte noch einmal. »Also schön, fahren wir an den Strand. Wir haben uns jetzt beide etwas Entspannung verdient.«
Pudagla
Gabi hatte am nächsten Morgen einen Termin mit dem Leiter des Bauamtes in Wolgast. Bevor sie das Haus verließ, legte sie Jasmin noch einmal ans Herz, sich schleunigst um die Adresse von André zu kümmern, mit ihm zu sprechen, wobei sie sich wegen des albernen Verdachts gründlich blamieren würde, und anschließend zur Polizei zu gehen. Sie wiederholte, dass sie es für einen Fehler hielt, den Behörden nicht gleich ihre Entdeckung gemeldet zu haben, und verließ sich nun auf Jasmin, die diesen Fehler gefälligst auszubügeln hatte. Schweren Herzens machte die sich auf den Weg nach Ahlbeck. Vor der Tür der Pizzeria musste sie schmunzeln. Wie wenig einladend hatte der Eingang bei ihrem Besuch auf sie gewirkt, jetzt tanzten bei dem Anblick Schmetterlinge in ihrem Bauch herum. Erleichtert stellte sie fest, dass das kleine Lokal noch geschlossen war. Erst in zwei Stunden würde es öffnen. Es war nicht ihre Schuld, dass sie warten musste. Ihre Erleichterung wich dem schlechten Gewissen. Sie hatte Gabi immerhin versprochen, sich augenblicklich zu kümmern. Und es war eine Telefonnummer am unteren Rand der Speisekarte angegeben, die in einem kleinen Glaskasten neben der Tür hing. Unschlüssig stand sie da, holte ihr Handy hervor und starrte in den Kasten, in dem einige Mücken ihr Leben ausgehaucht hatten. Eine Zahl nach der anderen tippte sie ein, während sie sich zurechtlegte, was sie sagen sollte. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen, dann ein Knistern und eine männlicheStimme mit italienischem Akzent, die sagte, dass zurzeit bedauerlicherweise niemand zu erreichen sei. Ein Anrufbeantworter. Jasmin atmete auf und beendete die Verbindung. Die Angelegenheit war wirklich zu kompliziert, um sie in dreißig Sekunden zu erläutern. Sie würde etwas unternehmen und in zwei Stunden zurückkommen, um persönlich nach André zu fragen.
Jasmin fuhr um den Schmollensee herum und bog dann links ab. Ihr Urlaub neigte sich dem Ende zu, und sie wollte unbedingt noch eine Skizze von Pudagla anfertigen. Dort gab es nicht nur die berühmte Bockwindmühle, sondern auch das Schloss mit seinem etwas morbiden Charme, wie Gabi sich einmal ausgedrückt hatte.
Die Mühle war ein lohnendes Motiv. Jasmin zeichnete eine Eisenkette, die zerbrochen am Fuße der Treppe, die hinauf ins Innere der Mühle führte, im Gras lag. Sie hatte eine Sage von Zwergen gelesen, die ganz in der Nähe unter der Erde lebten. Es habe ein paar unerschrockene Menschen gegeben, so hieß es, die deren Höhlen erkunden wollten, aber nie wieder an das Tageslicht zurückkehrten. So mieden die Leute irgendwann die Gegend und stiegen nicht mehr hinab in den Schacht, sondern verschlossen ihn mit einer Eisenkette. Ihre Neugier aber blieb. Jasmin kam gut voran, vollkommen auf ihre Arbeit konzentrieren konnte sie sich jedoch nicht, denn sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Immer wieder sah sie auf, aber da waren nur Besucher, die nicht unbedingt viel Notiz von ihr nahmen. Sie fühlte sich wie vor einigen Tagen in dem Museum in Peenemünde, kurz bevor André aufgetaucht war. Ein Kribbeln huschte durch ihren Magen, sie erwartete beinahe, ihn zu sehen. Vielleicht spielten ihr aber auch nur die Nerven einen Streich. Bestimmt war es die Sage, die ihr vorgaukelte, über einem geheimnisvollen Zwergenreich zu stehen, die sie so nervös machte. Diese Sage berichtete von einer Frau, die eines Tages zum Tode verurteilt wurde. Da kamen die schlauen Richter auf die Idee, sie in den Gang hinabzuschicken, um endlich ihre Neugier zu befriedigen. Das käme entweder der Vollstreckungihres Urteils gleich, falls sie wie alle vor ihr nicht zurückkehren würde, oder aber die Frau hätte Glück und käme lebendig an die
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