Der Sommer deines Todes
sie in der Lage, mir detailliert zu schildern, wie sich die Entführung abgespielt hat. Ihr Bericht füllt die Lücken der Theorie, die Mac und ich aufgestellt haben. Nach dem, was Dathi berichtet, war Dante, der Mann vom Schlüsseldienst, an der Entführung nicht beteiligt, sondern nur ein Störfaktor, der eliminiert werden musste.
«Der Mann, der euch gekidnappt hat», möchte ich wissen, «wie hat er ausgesehen?»
«Er war groß, gemein, verschwitzt. Er roch echt widerlich und hatte ein ekliges Schlangentattoo am Hals und im Gesicht.»
In meine Erlebnisse mit diesem Mann weihe ich Dathi, die in ihrem Leben schon genug Sorgen gehabt hat, besser nicht ein. Später werde ich ihr einmal erzählen, dass er bei der Verfolgungsjagd gestorben ist, aber dass ich nur ganz knapp mit heiler Haut davongekommen bin, muss sie nicht unbedingt erfahren. Der Gedanke, wie es sich wohl anfühlt, in einen Abgrund zu stürzen, lässt mich erschauern, doch derlei Sentimentalitäten sind vollkommen überflüssig, denn es ist ja anders gekommen: Er ist tot, und ich lebe.
«Was kannst du mir noch über den Polizeichef berichten?»
«Er ist jeden Tag gekommen, hat manchmal Essen gebracht. Sie haben draußen gestanden, sich unterhalten, und nach einer Weile ist er weggefahren. Erst später, auf der Flucht, haben Free und ich aus dem Fernsehen erfahren, dass er Polizeichef ist und die Fahndung nach uns organisiert. Da haben wir kapiert, dass niemand nach uns sucht.»
«Mac und ich schon.»
Ein Lächeln umspielt Dathis Lippen. «Wo ist Mac?»
«In New York.»
Meine Antwort erschüttert sie. Zur Beruhigung fahre ich mit der Hand über ihre Stirn und streiche eine Haarsträhne beiseite, die ihre hübschen Augen verdeckt. «Er ist nach Hause gefahren, um uns von dort aus zu helfen.»
«Von New York?»
«Die Ereignisse hier haben offenbar etwas mit einem Fall zu tun, den er vor unserer Abreise bearbeitet hat. Meinst du, du kannst mich dorthin bringen, wo Mary und Ben festgehalten werden?»
«Sicher bin ich mir nicht, aber ich kann es versuchen. Das Haus muss irgendwo im Norden sein, denn Free und ich haben versucht, nach Süden, nach Capitana zu kommen, weil wir hofften, euch dort zu finden.»
«Kluges Mädchen.» Ich versuche mich an einem aufmunternden Lächeln, was mein geschundenes Gesicht nicht zulässt. «Liz’ Hotel liegt ganz im Norden. Hat sie euch dort versteckt?»
«Nein, das glaube ich nicht. Bis auf uns, Liz, Blaine, den Polizeichef und den Wachen war da niemand. Das Haus war recht klein und liegt direkt am Strand.»
«Wahrscheinlich hat sie euch irgendwo in der Nähe des Hotels eingesperrt, damit sie problemlos zu euch gelangen konnte.»
Nach Dathis Ausführungen zu urteilen, wird uns nichts anderes übrigbleiben, als nach Norden zu fahren und Fremont hier zurückzulassen. Da sich mein Verdacht bestätigt und Enzio Greco tatsächlich Dreck am Stecken hat, wäre es garantiert ein schwerer Fehler, wieder einen Fuß in das Polizeirevier zu setzen und auf Fremonts Freilassung zu beharren. Obwohl ich bereits zwei Nachrichten bei der amerikanischen Botschaft hinterlassen habe, kann ich nicht davon ausgehen, dass sie noch heute Nacht abgehört werden.
«Dathi, Schätzchen, wir müssen Fremont noch eine Weile sich selbst überlassen. Solange er in einer Zelle sitzt, wird ihm schon nichts passieren.»
«Aber sie erzählen Lügen über ihn, behaupten …»
«Ich weiß.» Demnach hat sie also mitbekommen, was in den Zeitungen steht. Offenbar haben die Nachrichten nicht nur mich, sondern auch sie hierhergeführt. «Was sie behaupten, ist egal. Ihre Lügen liefern ihnen einen Grund, ihn hier festzuhalten, mehr nicht. Wir werden das richtigstellen, aber ich halte es für besser, wenn wir uns zuerst darum kümmern, Mary und Ben zu finden.»
Die Tür des Reviers geht auf, der Polizist kommt mit aufgesetztem Lächeln heraus und verkündet: «Signora, der Wachtmeister kann Sie jetzt empfangen.» Just in dem Moment kommt ein Taxi angefahren. Ich winke, wir steigen ein und ich überrede den Fahrer auf Englisch, sofort loszufahren, ohne ihm genau zu sagen, wohin wir möchten. Ein weiterer, offensichtlich aufgebrachter Polizist kommt nach draußen gestürmt und brüllt den Kollegen vom Empfang an, der achselzuckend die Hände hebt, um den Vorwurf abzuwehren.
«Karin», verkündet Dathi resigniert, «diese Liz hat zwei bewaffnete Wachmänner engagiert.»
«Mach dir keine Sorgen», rate ich ihr, wohl wissend, dass dieser Punkt
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