Der Sommer deines Todes
Greco deutet auf zwei schwarze Stühle vor seinem Schreibtisch und geht zu seinem ultramodernen, ergonomischen limonengrünen Sessel. Auf dem Schild auf seinem Tisch steht
Enzio Greco, Commissario, Polizia di Stato, Sant’Elena Provincia.
Das kann nicht wahr sein. Das muss ein Traum sein. Ich möchte die Augen schließen, wieder aufwachen und in die kleine Küche unseres Ferienhauses gehen, wo Mary und die Kinder vor nicht allzu langer Zeit gefrühstückt haben.
«Tut mir leid, Sie zu stören.» Mac schlägt ein Bein über das andere, legt die gefalteten Hände auf die Knie und beugt sich vor. «Wir wussten ja nicht, wer Sie sind.»
«Wer bin ich denn?», fragt Greco lächelnd. Da mich der Anblick seiner langen Eckzähne aus der Fassung bringt, richte ich den Blick auf einen halbleeren Papierkorb aus grünem Metallgeflecht, der neben seinem Schreibtisch steht. Darin befinden sich zerknüllte Blätter, ein leerer Pappbecher, ein fleckiger Briefumschlag. «Ich bin der Einzige auf unserem Revier, der genug Englisch spricht, um diese Unterhaltung führen zu können. Und es ist mir eine große Freude, Sie zu empfangen.» Er stockt kurz. «Ähm … das trifft es nicht ganz. Ihre Kinder sind also noch nicht wieder aufgetaucht?»
«Nein», sage ich. «Und wir haben auch nichts von ihnen gehört. Wir sind wirklich sehr besorgt.»
«Signora», er legt beide Hände auf sein Herz, «natürlich machen Sie sich Sorgen.»
«Wenn Sie uns sagen könnten, wo wir die Vermisstenanzeige aufgeben können, wären wir Ihnen sehr dankbar», drängt Mac.
«Da sind Sie hier genau richtig. Warten Sie kurz. Ich erkundige mich erst mal, welche Unfälle seit gestern Abend gemeldet wurden. Danach sehen wir weiter.» Greco nimmt den Telefonhörer ab, drückt eine Taste und stellt seinem Gesprächspartner eine Frage auf Italienisch. Während er auf die Antwort wartet, erklärt er uns: «Im Sommer besuchen Touristen aus den unterschiedlichsten Ländern unsere Insel, und es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand verlorengeht. In manchen Städten gibt es Einrichtungen, die diesen Personen eine Übernachtungsmöglichkeit samt Frühstück zur Verfügung stellen – sogenannte
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. Gegen eine geringe Gebühr, versteht sich. Und am nächsten Morgen kehrt der vermisste Gast dann zu seinen Liebsten zurück. Das passiert andauernd. Später werden Sie über diesen Vorfall lachen.»
Da täuscht sich der Mann gewaltig, aber wir ringen uns ein Lächeln ab. Plötzlich muss ich an Dante, den Mann vom Schlüsseldienst, denken und kriege Herzklopfen.
«Gestern habe ich am Flughafen einen Zeitungsartikel über einen Mord gelesen. Ein Mann namens Dante, der für einen Schlüsseldienst arbeitet, ist getötet worden.»
Greco schüttelt den Kopf. Seufzt. «Ja. Eine schreckliche Geschichte, aber ich kann Ihnen versichern, dass so etwas hier sehr, sehr selten vorkommt. Touristen sind auf Sardinien sicher. Glauben Sie mir, unsere Verbrechensrate ist vergleichsweise niedrig.»
«Es ist nur so», sage ich und beuge mich vor, damit er meinem Blick nicht ausweichen und das Thema wechseln kann, «dass ein Mann namens Dante das Schloss in unserem Ferienhaus austauschen sollte.»
«Und? Hat er das getan?»
«Es sieht ganz so aus. Eine Sicherung ist herausgesprungen. Der Sicherungskasten befindet sich in einem Schuppen im Garten, und der dazugehörige Schlüssel war unauffindbar. Am Mittwoch floss anscheinend wieder Strom, denn da habe ich von Mary mehrere Mails erhalten. Bei unserer Ankunft lag nasse Wäsche in der Waschmaschine, und wir konnten das Licht einschalten. Mary zufolge sollte der Mann vom Schlüsseldienst zwar erst am Donnerstag kommen, aber ich denke, er ist einen Tag früher aufgetaucht.»
Greco richtet seine blassgrünen Augen auf mich, hebt und senkt die schweren Augenlider, hört zu und nickt nachsichtig.
«Verstehen Sie jetzt, wieso wir ganz krank sind vor Sorge? Unsere Familie ist verschwunden, und ein Mann wurde an dem Tag umgebracht, an dem er bei uns ein Schloss ausgewechselt hat.»
«Sein Name war Dante», meint Mac. «Mehr wissen wir nicht.»
«Das Mordopfer war ein fünfundzwanzigjähriger Schlosser aus Villesimus. Ein tragischer Verlust für seine Frau und seine Eltern. Wie kommen Sie auf die Idee, dass Ihr Mann jener Dante Serra war?»
«Nun, wir …»
«Karin», fällt Mac mir ins Wort. «Seinen Nachnamen kennen wir nicht. Und wir wissen auch nicht, ob es sich um denselben Dante handelt», erzählt er Greco
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