Der Sommer deines Todes
einer amerikanischen Frau hören. Ich taufe sie auf den Namen Jane, weil – hätte Mary eine Schwester – sie meiner Meinung nach so hieße.
Auf der Rückfahrt zum Haus versuche ich zum zweiten Mal an diesem Morgen, Giulia Porcu zu erreichen, höre aber wieder nur die Ansage auf dem Anrufbeantworter. Ich verzichte darauf, eine weitere Nachricht zu hinterlassen. «Warum ruft sie denn nicht zurück?»
«Wenn sie etwas wüsste, würde sie sich bestimmt mit uns in Verbindung setzen.»
«Sie könnte sich trotzdem mal melden.»
Diesmal reagieren wir nicht überrascht, als wir das Haus leer vorfinden. Auf dem Zettel neben dem Telefon steht
Su Nuraxi, Barumini
. Mac sucht den Ort auf der Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hat, und macht sich mit der Insel vertraut, während ich Kaffee koche und Wasserflaschen einpacke.
«Das bringt dich wieder auf Trab», sage ich und stelle seinen Becher auf den Beistelltisch.»
«Koffein wirkt immer Wunder.» Schweiß perlt von seiner Stirn, ein Tropfen fällt senkrecht von seiner Augenbraue auf die Karte. «Hier.»
Das an der Südküste gelegene Capitana gehört zur Gemeinde Quartu Sant’Elena und liegt östlich von der Hauptstadt Cagliari. Macs Finger tippt auf einen Ort ein Stück weiter nördlich. Mir war gar nicht klar, wie gering die Entfernung zwischen Sardinien und Nordafrika ist. Man könnte praktisch nach Tunesien schwimmen. Zu Hause war ich viel zu sehr mit den Vorbereitungen für den Wohnungstausch und dem Packen beschäftigt, um mich mit der hiesigen Geographie vertraut zu machen.
«Dumme amerikanische Touristin», murmele ich schlecht gelaunt in mich hinein.
«Wie bitte?» Mac wirft mir einen halb verwunderten, halb verärgerten Blick zu.
«Nichts.»
«Su Nuraxi di Barumini», konzentriert er sich wieder auf die Karte. «Das müssen wir ins Navi eingeben.»
Eine vorbeilaufende Katze jagt mir einen solchen Schrecken ein, dass heißer Kaffee auf meine Hand schwappt und mir Tränen in die Augen schießen. Mac legt die Karte weg, erhebt sich und nimmt mir den Becher ab, damit ich meine Hand an der Jeans trocken wischen kann. Mit seiner freien Hand greift er nach meiner und küsst sie. «Die Polizei wird etwas herausfinden.»
«Das will ich doch schwer hoffen.»
«Sollen wir ein paar Brote für unterwegs schmieren?»
«Lass uns lieber gleich losfahren», sage ich. «Wenn wir Hunger kriegen, können wir uns irgendwo etwas zu essen kaufen.» In Wahrheit habe ich so meine Zweifel, dass ein paar belegte Stullen den Hunger, unter dem ich leide, stillen können.
Mary hört, wie sich draußen Leute auf Italienisch unterhalten, und würde ihr letztes Hemd dafür geben, sie verstehen zu können. Die Frau namens Emiliana, die für ihre Entführung verantwortlich zu sein scheint, redet mit einem großgewachsenen, älteren Mann mit dichtem weißem Haar, der am vergangenen Tag etwa um diese Zeit aufgetaucht ist.
Warum, überlegt Mary, kommt mir diese Emiliana nur so bekannt vor?
Eine Böe vom Meer lässt Emilianas Leinenhose um ihre Beine flattern. Barfuß steht sie am Strand, bohrt die knochigen Zehen in den Sand und beschattet zum Schutz gegen die gleißende Sonne die Augen mit einer von Altersflecken überzogenen Hand. Ihr runzliges, sonnengebräuntes Dekolleté wird von einer nur halb zugeknöpften Bluse kaum bedeckt. Während sie dem Mann zuhört, bläst der Wind ihr die zerzausten, gebleichten Haarsträhnen ins Gesicht, wovon sie sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.
Mary versteckt sich hinter den flatternden Vorhängen und späht durchs Fenster. Obwohl sie Emilianas Augen nicht sehen kann, glaubt sie zu wissen, dass ihr Blick kalt, leer und ausdruckslos ist. Zwei Nächte nach ihrer Ergreifung ist es Mary immer noch ein Rätsel, warum man sie entführt hat und wo man sie festhält.
«Spiel mit mir, Mary!» Ben kommt aus einem der Schlafzimmer angerannt, wo Dathi und Fremont sich eigentlich um ihn kümmern sollten, während Mary das Mittagessen zubereitet. Auf der Theke der offenen Küche steht ein Teil der Lebensmittel, die Emiliana gebracht hat.
«Nicht so laut!», weist Mary Ben zurecht und zerrt den Kleinen vom Fenster weg, damit keiner von ihnen Notiz nimmt. Dann kniet sie sich hin, schließt Ben in die Arme und legt ihm instinktiv die Hand auf dem Mund. Dass sie so streng zu ihm sein muss, tut ihr in der Seele weh, doch jetzt geht es nur darum, zu überleben.
Mary hat nicht den geringsten Schimmer, wo man sie festhält. Sie weiß nur, dass die
Weitere Kostenlose Bücher