Der Sommer deines Todes
Hundert-Millionen-Dollar-Frage doch: Wie lange?
«Notieren Sie sich Folgendes», weist der Mann ihn an.
«Ich brauche etwas zum Schreiben», flüstert Mac Karin zu, die in der Küche nach dem Stift und dem Schreibblock sucht, auf dem Mary eine Einkaufsliste erstellt hat:
Olivenöl, Müsli, Trauben.
«Enzio Greco, Quartu Sant’Elena, Via Firenze 52 . Melden Sie sich bei mir oder kommen Sie hier vorbei. Mich zu finden, ist ein Kinderspiel. Falls etwas ist, werde ich versuchen, Ihnen zu helfen.»
«Vielen Dank.»
Sie verabschieden sich voneinander.
«Wer ist er?», fragt Karin in dem Moment, wo Mac auflegt.
«Enzio Greco. Arbeitet bei der Polizei. Spricht Englisch. Klingt nett, aber … ich hoffe sehr, dass wir uns nicht noch mal an ihn wenden müssen.»
Kapitel 9
Freitag, 13. Juli
P
olizia di Stato Commissariato
steht auf einem schlichten quadratischen Schild neben dem Eingang des beige getünchten Gebäudes Nummer 52 auf der Via Firenze. Gleich hinter der Glastür sitzt eine zierliche, freundlich lächelnde Frau am Empfangstisch. Blaue Adern scheinen durch ihre gebräunte Haut. Ihre toupierten schwarzen Haare haben etwas von einem Spatzennest. Dass ich in Gedanken schon wieder abschweife, liegt an dieser ganz besonderen Mattigkeit, die einen überkommt, wenn man kaum geschlafen hat. Die ganze Nacht über sind wir beim kleinsten Geräusch, das durch das offene Fenster drang, aufgewacht. Ein Zwitschern, das nächtliche Zirpen der Grillen, das leise Knurren der spielenden Katzen – jeden Ton haben wir fälschlicherweise zuerst als Motorengeräusch interpretiert.
«Come posso aiutarla?»
«Enzio Greco», entgegnet Mac.
«Gli americani, si.»
Die Frau springt von ihrem Tisch auf und verschwindet durch eine Tür, aus der gedämpft klassische Musik dringt. Violinen. Außer uns befindet sich niemand in der bescheidenen Lobby. An der Wand hinter dem Tisch hängt ein Fahndungsplakat mit einer Ansammlung von Verbrecherfotos unter dem Wort
I Latitanti
. Gleich daneben klebt ein Poster mit den historischen Monumenten Sardiniens. Als mir Rosmarinduft in die Nase steigt, vergesse ich für einen Moment, warum wir hier sind, und überlege, ob im Hinterzimmer jemand kocht.
Die Violinenklänge werden lauter, die Tür geht auf, und die Empfangsdame kommt in Begleitung eines großen Mannes auf uns zu. Trotz seiner schlanken Statur hat er einen stattlichen Bauch und ein beachtliches Doppelkinn. Sein dichtes weißes Haar wippt fröhlich beim Gehen. Sanft lächelnd reicht er Mac die Hand – anscheinend ahnt er, wer wir sind.
«Mr. MacLeary, ich bin Enzio Greco. Willkommen.»
Während sie einander begrüßen und ich darauf warte, dass Mac mich vorstellt, fällt mein Blick auf Grecos Ausweis.
Commissario di Polizia
steht auf der laminierten Karte. Der Commissioner? In den Vereinigten Staaten ist das der Polizeichef, und der würde einen Besucher niemals so jovial begrüßen. Sein Verhalten befremdet mich für einen Moment, doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass in diesem fremden Land andere Regeln gelten und sich die Berufsbezeichnungen von denen in den Staaten unterscheiden. Ist hier ein Polizeichef so etwas wie ein Büroleiter?
«Karin Schaeffer», stelle ich mich selbst vor, als Greco mich mustert. «Macs Frau.»
«Bitte. Kommen Sie.» Er bedeutet uns, ihm durch die Tür zu folgen. Wir durchqueren ein großes Büro und die Streicher werden lauter. Dort sitzt eine Handvoll Zivilbeamter an superschicken Metallschreibtischen – sehr italienisch. Der Unterschied zu dem uralten Mobiliar amerikanischer Reviere, das nur auf den ersten Blick vintage wirkt, ist wirklich frappierend.
Die Bürostühle mit orangefarbenen Kunststoffsitzschalen scheinen einem Möbelmagazin entsprungen zu sein. Jeder Arbeitsplatz ist eine reine Augenweide: Auf der Tischplatte stehen ein blauer Stifthalter, der aussieht, als wäre er aus Origamipapier gefaltet, ein grellroter Tacker und eine silberne Kugel, die als magnetischer Halter für Büroklammern dient. Die Outfits der Kriminalbeamten – Röhrenjeans und getönte Brillen – vermitteln einem eher das Gefühl, in einer extrem hippen Metropole und nicht in einem Provinznest auf einer Mittelmeerinsel gelandet zu sein. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus und frage mich, ob wir etwas falsch verstanden haben. Sind wir tatsächlich auf einem Polizeirevier? Oder sollten wir besser sofort von hier verschwinden, um keine kostbare Zeit zu verlieren?
«Nehmen Sie bitte Platz.»
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