Der Sommer deines Todes
kalten Schauer über den Rücken.
Ben im Arm, reckt sie den Kopf und späht durch das Fenster. Der weißhaarige Mann ist verschwunden. Sie hört, wie ein Fahrzeug wegfährt. Der rote Fiat steht immer noch an seinem angestammten Platz. Emiliana dreht sich um und sieht zum Haus hinüber. In der grellen Sonne wirken ihre Augen heller, die Falten tiefer. Zum wiederholten Mal kann Mary sich nicht des Eindrucks erwehren, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
Kapitel 10
Ü ber achtzig Kilometer verläuft die Straße nach Barumini durch Felder und Wiesen. Zum Zeitvertreib und zur Vorbereitung auf ihr Ziel liest Karin Mac laut vor, was sie im Internet über den Ort findet. Hin und wieder bricht die Verbindung ab, was in einem so dünn besiedelten Landstrich kaum verwundert. «Su Nuraxi ist die am besten erhaltene Groß-Nuraghe auf Sardinien. Die Turmbauten stammen aus dem fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert vor Christus. Der italienische Archäologe Giovanni Lilliu entdeckte die Überreste der Anlage unter einem Hügel, der erst später entstanden ist. Sie diente als Schloss, Dorf und Festung. Lillius Ausgrabung in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts schreibt die Chronologie des prähistorischen Sardinien neu.»
Dass Mary diesen Ort mit den Kindern besichtigen wollte, versteht sich von selbst, aber warum, sinniert Mac, hat sie damit nicht gewartet, bis er und Karin aus England eintreffen? Dann hätten sie diesen Ausflug gemeinsam unternehmen können. Hätte Mary sich noch etwas in Geduld geübt, dann …
Tief in Gedanken versunken, verpasst er die Abzweigung, worauf eine resolute Frauenstimme prompt in leicht irritiertem Tonfall verkündet: «Bitte wenden.»
«Wir sind falsch», informiert ihn Karin, als hätte sie sich insgeheim mit der Stimme aus dem Navigationsgerät verbündet.
«Habe ich auch schon bemerkt.» Zu Macs Missfallen beschreibt die Straße – ohne Leitplanken, versteht sich – ein Stück weiter vorn eine Kurve, hinter der die Küste steil abfällt.
«Wir müssen umkehren.»
«Okay», entgegnet er bemüht ruhig, denn jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streit. Sie muss doch mitkriegen, dass es auf dieser schmalen, ansteigenden Straße keine Wendemöglichkeit gibt.
«Jesus!», entfährt es Mac.
Plötzlich geht der Motor aus. Karin wird gegen Mac geschleudert, als er versucht, dem Abgrund auszuweichen und gleichzeitig den Motor wieder anzulassen, um einen Zusammenstoß mit dem Fahrzeug hinter ihnen abzuwenden.
«Ich schaffe es, ich schaffe es, ich schaffe es», beschwört Mac. Endlich hat er es geschafft, ihre Klapperkiste in die Mitte der Straße zu manövrieren und wieder zu starten. Als das Klingeln in seinen Ohren und der Brechreiz langsam nachlassen, holt er erst einmal tief Luft. Karin nimmt langsam die Hand von seinem Knie. Anscheinend wollte sie ihn spüren, falls sie über die Klippe rauschen und sterben sollten.
«Scheißkarre.»
«Du bist zu schnell», warnt Karin. «Geh vom Gas.»
«Ich versuche, die richtige Geschwindigkeit zu finden. Fahre ich zu langsam, geht der Motor aus und wir riskieren, dass jemand auffährt. Fahre ich zu schnell, rasen wir über die verdammte Klippe.»
Während die Straße, die auf die Anhöhe führt, immer steiler wird, verkürzen sich die Abstände zwischen den scharfen Kurven, bis es ihnen so vorkommt, als würden sie Achterbahn fahren. Umgeben von blanken Felsen und einem blauen Himmel, ist die Gefahr, in den Abgrund zu stürzen, immer präsent.
«Das ist doch der schiere Wahnsinn», flüstert Karin entsetzt.
Ein Wagen kommt um die vor ihnen liegende Kurve gerauscht und saust ihnen entgegen. Mac fällt es nicht leicht, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. Kaum ist das andere Auto außer Sichtweite, fährt er auf die Mitte der Straße und sagt: «So sehe ich das auch.»
Ohne Vorwarnung bricht Karin in unkontrolliertes Gelächter aus, bis sie vor lauter Hysterie fast weint. Mac, der sich auch nicht mehr beherrschen kann, kichert ebenfalls.
«Hör auf», fleht er. «Wenn ich jetzt feuchte Augen kriege, sehe ich nichts mehr.»
«Ich mache mir gleich in die Hose», ruft sie.
«Reiß dich zusammen.»
Nachdem sie sich abreagiert haben, schweigen sie. Jetzt kommt es darauf an, sich zu konzentrieren, den Wagen sicher zu lenken, Ruhe zu bewahren. Sie fahren durch ein beinah wie ausgestorben wirkendes Örtchen, wo auch die Straße keine Schwierigkeiten mehr macht.
«Die Einwohner halten Siesta», merkt
Weitere Kostenlose Bücher