Der Sommer deines Todes
gearbeitet?», möchte Mac wissen.
«Außer mir nur noch Nicolo –
mi scusi
.» Sie dreht sich zu einem Mann um, der gerade mit einer Gruppe Japaner von einer Führung zurückkommt. «Nicolo!»
«Si?» Der junge Mann mit den bis zu den Schultern reichenden Locken und einer tätowierten Jungfrau Maria auf dem Bizeps trägt das gleiche Outfit wie Luisa.
«Wir hätten eine Frage an Sie.»
Gut gelaunt tritt Nicolo zu ihnen. «Aber sicher. Wie kann ich Ihnen helfen?»
Karin zeigt ihm die Aufnahme, die er sich ebenfalls genau ansieht. «Tut mir leid. Nein, diese Leute habe ich gestern nicht gesehen.»
«Vielleicht heute?», hakt Karin nach.
«Nein», antworten Nicolo und Luisa.
«Gibt es noch jemand anderen, der sie gesehen haben könnte?», fragt Mac.
«Raffaela war gestern hier. Sie hat die ganze Woche gearbeitet», erklärt Luisa. «Sie finden sie in dem Andenkenladen dort drüben.»
«Danke», sagt Mac. «Ciao.»
«Ciao», erwidert Nicolo. Luisa, die ihnen nachdenklich hinterherschaut, schweigt. Als Karin sich noch einmal umsieht, zieht Mac sie weg. Jetzt ist nicht der passende Moment für Gefühlsduselei, für mütterliche Anteilnahme oder diese übertriebene Schwarzmalerei, der Frauen manchmal bei der kleinsten Kleinigkeit verfallen.
Ich kann es gar nicht leiden, wenn Mac so an mir zerrt, und reiße mich los. «Danke», rufe ich über die Schulter Luisa zu. «Ciao.»
«Ciao.» Sie winkt mir hinterher. Ihre Geste bewirkt, dass ich mich etwas besser fühle. Diese Frau kann nachvollziehen, was wir durchmachen, wieso wir den weiten Weg auf uns genommen haben, doch ihr teilnahmsvoller Blick versetzt mir einen Stich. So mache ich auf dem Absatz kehrt und folge Mac in den Andenkenladen.
«Raffaela?», beginnt er. «Sprechen Sie Englisch?»
«Ein bisschen», erwidert die ältere Dame so zögerlich, als wäre ihr Wortschatz damit bereits erschöpft. Sie hat silbergraue Haare und ein runzeliges Gesicht, das einer Walnuss ähnelt. Ihr pinkfarbener Lippenstift erinnert mich daran, dass man die Hoffnung niemals aufgeben darf.
«Unsere Familie.» Ich zeige ihr das Foto auf meinem Handy. «Haben Sie sie gesehen?»
Es dauert einen Moment, bis sie meine Frage verstanden hat. Sie schüttelt den Kopf, zuckt mit den Achseln. «No, no. Mi dispiace.»
«Sind Sie sicher? Schauen Sie noch mal genau hin. Bitte.»
«Danke.» Mac schleift mich aus dem Andenkenladen.
«Du tust mir weh.»
«Sie hat sie nicht gesehen. Keiner hier hat sie zu Gesicht gekriegt.»
«Aber sie waren da.»
«Das behauptet Giulia.»
«Kein Glück?» Luisa wartet neben dem Ticketschalter geduldig auf ihre nächste Gruppe.
«Nein», flüstere ich und schaffe es gerade noch, nicht in Tränen auszubrechen.
«Hat jemand einen Wagen über Nacht hier stehen lassen? Vielleicht einen blauen Peugeot?», erkundigt sich Mac. Luisa dreht sich zu dem Mädchen am Ticketschalter um und übersetzt die Frage auf Italienisch.
«Nein», erklärt uns Luisa, «der Parkplatz war leer, als sie heute Morgen zur Arbeit gekommen ist.» Oben am Himmel zieht eine Wolke weiter und taucht die Fremdenführerin in diffuses Sonnenlicht. Erst da fällt mir auf, dass sie außer einem Ehering ein Paar schlichte Goldohrringe trägt.
Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals, nicke nur kurz und wende mich ab. Mit Mac im Schlepptau halte ich auf den Parkplatz zu und lasse den Blick über Su Nuraxi schweifen. Dieser Steinhaufen, einst Schloss und Festung, verfügt über zahlreiche Ein- und Ausgänge und Nischen. «Was hältst du davon, wenn wir uns dort drinnen mal umsehen», schlage ich Mac vor.
«Keiner hat sie gestern gesehen, Karin. Sie waren nicht hier.»
«Ich finde, wir sollten es trotzdem tun.» Meine Sturheit fußt auf dem festen Glauben, dass wir aus einem ganz bestimmten Grund an diesem Ort sind, dass wir hierhergeschickt wurden. Die Anlage ist nicht bewacht, man kann sie auf eigene Faust erkunden und sich darin verlaufen, ohne dass jemand Notiz davon nimmt. Ich verlasse den Pfad, marschiere über den Rasen und steige mühelos über die Absperrung, ein dickes, auf Kniehöhe gespanntes Seil. Je näher ich der Festung komme, desto trockener wird der Boden. Binnen kürzester Zeit bewege ich mich in einer riesigen Staubwolke.
«Sie müssen entschuldigen!», höre ich Mac rufen und male mir aus, wie Luisa mit den Achseln zuckt und mitfühlend lächelt. Sie wird schon verstehen, was mich antreibt und zu diesem Schritt veranlasst. Ich höre, wie mein Mann mir folgt, und
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