Der Sommer deines Todes
Parkautomaten zurück und löse ein neues Ticket. Am späten Nachmittag fliehe ich aus der gnadenlosen Sonne und wähle ein schattiges Plätzchen vor einem Café gegenüber der Piazza della Costituzione – ein monumentaler Platz zwischen Alt- und Neustadt, die in Wahrheit auch schon recht alt ist – von wo aus man einen Blick auf die Bastion San Remy hat. Das Antico Caffè liegt an einer geschäftigen Kreuzung, auf die fünf Straßen führen.
Erwachsene, Kinder, Touristen, Einheimische, Rollstuhlfahrer, Autos, Motorräder, Busse, Lastwagen ziehen an mir vorbei. In der Hoffnung, Mary, Dathi, Fremont oder Ben in der Menge zu entdecken, musterte ich jedes einzelne Gesicht. Meinen geliebten Sohn vermisse ich so sehr, dass es richtig weh tut.
Alle lächeln, keiner kann mir helfen.
Money, money
, kommt mir in den Sinn. Voller Abscheu muss ich an den bettelnden Akkordeonspieler denken. Früher wurde dieses Eiland von Mückenschwärmen heimgesucht, und jetzt wird ihr der grassierende Tourismus zum Verhängnis.
Am frühen Abend verändert sich das Licht auf der apricotfarbenen Hauswand gegenüber. Die anderen Gäste und ich gehen vom Kaffee zum Wein über, und so dauert es nicht lange, bis ich viel zu angesäuselt bin, um mit dem Auto nach Hause zu fahren.
So raffe ich mich auf, erhebe mich vom Tisch, marschiere weiter und studiere jeden Unbekannten. Fremd sind mir alle, denn bislang bin ich noch keiner einzigen Person zweimal begegnet. In meiner Hosentasche spüre ich Mario Rossis Streichholzbriefchen, das ich gestern Abend in seinem Arbeitszimmer gefunden habe. Nachdem ich noch ein paar Runden in der Altstadt gedreht, Fotos herumgezeigt und nach meiner verschwundenen Familie gefragt habe, gehe ich zu dem Restaurant, aus dem das Streichholzbriefchen stammt.
Während ich auf der Straße warte, bis ich an einen Tisch geführt werde, schlendern sonnengebräunte Touristen an mir vorbei, die nach ihrem Strandbesuch wohl zum Abendessen gehen. Alle wirken zufrieden und entspannt an diesem schönen historischen Ort. Ihr Glück tut mir weh. Ich vermisse meine Kinder so sehr, dass ich kaum noch Luft kriege und mir vor Kummer beinahe schwindlig wird. Als die Bedienung meinen Namen ruft und auf einen kleinen Tisch an der Wand deutet, wende ich den Blick ab und drücke meinen Schmerz weg.
Kapitel 13
A ls das Taxi hält, kippt Mac mit dem Oberkörper nach vorn und reißt die Augen auf. Verschlafen blickt er aus dem Fenster auf die sonnige Straße und hört Englisch, amerikanisches Englisch. Eine Frau in roten Lederclogs schiebt einen Zwillingskinderwagen über den kaputten Gehweg. Auf der Straße spielen sich ein paar halbwüchsige Jungs im Gehen einen Basketball zu. Ein kleines Mädchen mit Fahrradhelm und Pferdeschwanz fährt vor seinem Vater her, der einen eisgekühlten Starbucks-Kaffee trinkt und rennen muss, um mit ihr Schritt zu halten. Blinzelnd registriert Mac, dass er wieder zu Hause in Brooklyn ist.
Ihr Haus sieht noch genauso aus, wie sie es verlassen haben. Vor der Tür liegen weder Zeitungen und Wurfsendungen noch Mülltüten. Die Vorhänge sind zurückgezogen, in den Fenstern spiegelt sich das Sonnenlicht. Die Vertrautheit seines Heims wirkt einladend, doch er kann die eigenen vier Wände nicht einfach so betreten. Zuerst muss er den Rossis Gelegenheit geben, sich zu erklären. Er hat ihnen bereits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aber sie haben sich nicht gemeldet. Am liebsten hätte er sie gleich nach der Landung noch einmal angerufen. Auf der anderen Seite ist es aber vielleicht auch besser, einfach unangekündigt aufzutauchen, denn so wissen sie nicht, was sie erwartet, und können nicht abhauen. Ein unangenehmer Gedanke und dennoch einer der Gründe, die ihn zur Heimreise bewogen haben.
«Ist da hinten alles in Ordnung?», fragt der Taxifahrer leicht amüsiert.
«Ich bin ein bisschen benommen. Musste die ganze Nacht in Rom auf meinen Anschlussflug warten.» Er steckt die Kreditkarte in das Lesegerät.
«Deswegen reise ich nicht. Es wirft einen komplett aus der Bahn. Meiner Meinung nach überwiegen die Nachteile.»
«Dem kann ich im Moment nur beipflichten.» Gähnend steigt Mac aus dem Taxi und wartet, bis der Fahrer den Kofferraum öffnet und er seinen Trolley herausholen kann. Als das Taxi wegfährt, winkt Mac einem Nachbarn zu, einem jungen Mann, der erst vor kurzem auf der anderen Straßenseite eingezogen ist.
Er lässt den Koffer auf dem Gehweg stehen, steigt die Vordertreppe
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