Der Sommer deines Todes
unterschiedliche Hautfarben haben und er ein Niemand ist, der in einer Weltmetropole am Stadtrand lebt, hat/hatte er das beste Leben, das sich ein Kind wünschen kann. Und er ist vor allem deshalb verwöhnt, weil in seinem Leben – im Vergleich zu dem vieler anderer – wenig immer noch sehr viel ist. Seine Mutter hat nie zugelassen, dass er sich für arm hält, und dafür gesorgt, dass er kriegt, was er braucht, was er möchte. Irgendwie gelang es ihr, ihm ein Notebook zu kaufen, als er in die Mittelstufe kam. Und zu seinem vierzehnten Geburtstag hat sie ihm eine echt coole E-Gitarre geschenkt. Die Erinnerung treibt ihm die Tränen in die Augen, die er schnell wegwischt. Er kann es sich nicht leisten, Körperflüssigkeit zu verschwenden. Jeder Tropfen ist kostbar.
«Trink aus.» Er reicht Dathi die Flasche, hört, wie das Wasser in der Flasche herumschwappt, als sie sie zum Mund führt und gierig die letzten Tropfen trinkt. Im Mondlicht kann man sehen, wie sich ihr Kehlkopf beim Schlucken bewegt.
«Ahhh.» Sie wirft die Flasche weg. «Das ist das beste Wasser, das ich je getrunken habe. Selbst in Indien musste ich nie so lange Durst leiden.»
Anderthalb Tage ist es her, seit sie zum letzten Mal etwas getrunken oder gegessen haben, doch vor ein paar Stunden meinte es das Schicksal gut mit ihnen: Auf einem Tisch in einem Strandcafé lagen halb aufgegessene Sandwiches. Dathi tat so, als würde sie dort arbeiten und abräumen, versteckte die Reste unter ihrem T-Shirt und rannte dann schnell weg. Auch wenn sich gezeigt hat, dass sie allein weniger auffällt, fühlen sie sich auf ihrer Flucht zu zweit sicherer.
«Wie weit ist es noch?», fragt Dathi.
«Ich glaube, wir haben die Hälfte geschafft.» Fremont fragt sich, wie es seiner Mutter und Ben jetzt geht, wie sie ihre Flucht erklärt. Er ist noch so jung, dass er alles glaubt, was sich in diesem Fall als Vorteil erweisen könnte, aber dennoch … Während ihrer Gefangenschaft haben sie ihm so viele Lügen aufgetischt, dass Pinocchio vor Scham rot angelaufen wäre. Sie haben versucht, ihm weiszumachen, er würde seine Eltern bald wiedersehen, sie wären nur in ein anderes Ferienhaus gezogen. Umgezogen, dass ich nicht lache, denkt Fremont. Gekidnappt trifft es eher. Ben kann sich glücklich schätzen, dass er keine Ahnung hat, was passiert ist. Zu dumm, dass alle anderen auch im Dunkeln tappen.
«Ich muss pinkeln», sagt Dathi. «Bin gleich wieder da.»
Sie hebt die leere Wasserflasche auf, wirft sie in den Mülleimer und stapft in ein Gebüsch. Selbst im Dunkeln schämt sie sich, vor ihm die Hose herunterzulassen. Fremont findet das etwas komisch, denn sie ist für ihn wie eine Schwester geworden. Aber er respektiert ihr Bedürfnis nach Privatsphäre. Dass seine Mutter ihm beigebracht hat, wie man sich Mädchen gegenüber verhält, zahlt sich jetzt aus.
Die Scheinwerfer eines näher kommenden Fahrzeuges scheuchen ihn in den Schatten. Mitten in der Nacht sind nur wenige Autos unterwegs. Wäre Dathi hier, würden sie wahrscheinlich wieder den Daumen raushalten, doch so rührt er sich nicht von der Stelle.
Der Wagen bremst, bleibt stehen und setzt zurück. Er hält an der Stelle, wo Fremont im Schneidersitz auf dem Boden hockt, und er bekommt Angst.
Als Dathi fünf Minuten später zurückkommt, ist Fremont verschwunden.
«Free?», flüstert sie und ruft dann aus voller Kehle:
«Fremont!»
Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören.
Während sie sich im Gebüsch erleichtert hat, ist ein Auto vorbeigekommen. Und sie meint, Stimmen gehört zu haben – Radiostimmen.
«Fremont, bist du da?»
Wieder taucht ein Fahrzeug auf. Instinktiv versteckt sie sich hinter einem Baum. Mit einem Mal fühlt sie sich ganz verloren. Vielleicht ist er auch kurz pinkeln gegangen. Sie setzt sie in der mondhellen Nacht auf den Boden und wartet.
Kapitel 15
A uf Billys Schreibtisch im 84 . Revier stapeln sich vollgekritzelte Notizzettel, eine benutzte Serviette, Heftklammern und ein Stapel Verfahrensakten in abgegriffenen Schnellheftern. Ein Foto von seiner Schwester und ihrer Familie ist mit Klebestreifen am Topf einer halbtoten Pflanze befestigt. Gegen neun Uhr abends macht die Nachtschicht, von den Polizisten Friedhofsschicht genannt, ihrem Namen alle Ehre: Unter den Neonröhren wirkt jeder – egal ob weiß, schwarz oder braun – leichenblass. Das harte Licht merzt alle Unterschiede aus. Mac, dieser Atmosphäre seit einiger Zeit entwöhnt, freut sich in gewisser Weise
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