Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer deines Todes

Der Sommer deines Todes

Titel: Der Sommer deines Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
Vom Netzwerk:
Chen am Samstagnachmittag nicht bei Kroll zu erreichen. Mac hinterlässt ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter und starrt zum Fenster hinaus. Je näher sie der Stadt kommen, desto dichter wird der Verkehr. In der Bronx ragen Hochhäuser mit winzigen Fensteröffnungen in den Himmel. Jedes Mal, wenn Mac auf diesem Weg in die Stadt fährt, muss er an den Stadtplaner Robert Moses und diese von ihm entworfenen Viertel denken, an die hohe Kriminalität, Armut und Verzweiflung, die dort herrschen. Wieso dachte man einst, solche Wohnsiedlungen wären eine gute Idee? Hat denn damals keiner geahnt, dass solche seelenlosen, öden Wohnschachteln die Diskriminierung einer eh schon benachteiligten Bevölkerungsgruppe erhöht, die Hoffnungslosigkeit verstärkt? Wer hat zugelassen, dass diese inhumane Vision in so einem Maßstab realisiert wird? Ganze Viertel wurden abgerissen, um diese Sozialbausiedlungen zu errichten.
    Letztlich ging es ums Geld. Der Vorwand ‹bezahlbare Wohnungen› zu schaffen, erlaubte es der Gesellschaft, die ‹asozialen› Elemente aus dem Blickfeld zu verbannen, sie zu vergessen. So quartierte man die ärmeren Menschen in langweiligen, tristen Wohnungen ein, die sie sich gerade noch leisten konnten, und überließ sie ihrem Schicksal. Die Begüterten schauten in die andere Richtung, wenn sie durch diese Siedlungen auf Schnellstraßen fuhren, die Moses bauen ließ, weil man sich in diesen Gegenden nicht mehr sicher bewegen konnte. Worte wie Nachbarschaft, Bürger, Sicherheit sind mehrdeutig und missverständlich – und genau das ist das Problem.
    Als sie das Viertel endlich hinter sich gelassen haben, reibt sich Mac die Augen. Vielleicht hätte er sich Jane Jacobs
Tod und Leben großer amerikanischer Städte
besser nicht zu Gemüte geführt. Vielleicht sollte er überhaupt weniger lesen. Vielleicht täte es ihm gut, seinen Hunger nach Informationen herunterzuschrauben. Vielleicht stimmt es, dass die geistig Armen selig sind.
    Vielleicht hätte er das Thema Zwillinge nicht anschneiden sollen.
    Den vertraulichen Umschlag, den Cathy Millerhausen ihm ausgehändigt hatte, nicht öffnen sollen.
    Vielleicht wäre es besser gewesen, in Sardinien zu bleiben und Karin beizustehen.
    «Jetzt muss ich so tun, als hätte ich auf eigene Faust herausgefunden, dass Millerhausen ein Zwilling ist», meint Mac zu Billy. «Wie soll ich das deichseln, ohne Zeit zu verlieren?»
    Der Adoptionsurkunde zufolge ist Godfrey Millerhausen ohne seinen Bruder adoptiert worden, was darauf hindeutet, dass man die eineiigen Zwillinge bei der Geburt getrennt und einzeln zur Adoption freigegeben hat. In den Unterlagen finden sich keine Informationen über Godfreys Bruder.
    Billy zieht einen Mundwinkel nach unten und schüttelt den Kopf. «Scheiß drauf. Mach einfach weiter. Wie’s aussieht, wird dein Fall von Minute zu Minute interessanter. An deiner Stelle würde ich nicht abwarten. Immerhin bist du Privatdetektiv und musst dich nicht an die Regeln halten, die ein Polizist befolgen muss.»
    «Machst du Witze? Millerhausen könnte mich verklagen. Dafür sorgen, dass mir die Lizenz entzogen wird.»
    «Auf welcher Basis?»
    «Du hast Cathy doch gehört. Sie hat Schiss vor ihm und behauptet womöglich, ich hätte die Urkunde gestohlen.»
    «Und hinterher hat sie versprochen, genau das nicht zu tun. Wie dem auch sei, du hast einen Augenzeugen, der die Wahrheit kennt. Einen Augenzeugen mit Polizeimarke.»
     
    Nachdem sie sich den Tag über versteckt haben, stellen sie sich abends an die Straße und halten den Daumen hoch.
    «Capitana, in der Nähe von Cagliari», bitten sie und schweigen dann beharrlich, als der Fahrer versucht, sich auf Englisch mit ihnen zu unterhalten. Sie befürchten, dass er sie auf das nächste Polizeirevier bringt, dass der weißhaarige Polizeichef sie in die Finger kriegt und in das Haus dieser herzlosen Frauen zurückverfrachtet. Falls man sie erwischt, sitzen wieder alle in der Falle, und keiner erfährt, wo sie stecken.
    In einem Mülleimer neben dem Strandzugang finden sie eine halbvolle Flasche Wasser, das köstlicher schmeckt als alles, was Fremont je getrunken hat. Und das will bei einem amerikanischen Jugendlichen schon etwas heißen. In dem Moment erkennt er, wie verwöhnt er ist, wie gut es ihm geht oder – besser gesagt – bisher gegangen ist, obwohl er und seine Mutter immer knapp bei Kasse sind, obwohl sie in einem schlechten Viertel wohnen, obwohl sie nur zu zweit sind. Auch wenn seine Eltern

Weitere Kostenlose Bücher