Der Sommer der Frauen
Sekunde länger ertragen konnte. Sie wandte sich ab. Sie war sich nur in einem sicher: Sie wollte ihre Mutter in der Zeit, die ihr noch blieb, glücklich machen.
«Ich bin mir sicher», sagte sie.
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16. Isabel
K annst du dich daran noch erinnern?» June hielt ihr ein Fotoalbum hin.
Isabel legte das Album, das sie gerade angesehen hatte, auf ihren Beinen ab und sah zu June hinüber. Isabel, June und ihre Eltern, wie sie in Disney World mit Donald Duck um die Wette strahlten. Isabel war auf dem Foto sieben Jahre alt und June erst vier. Ihr Vater trug einen Micky-Maus-Hut samt Ohren und ihre Mutter ein hübsches, weißes Sommerkleid, einen Strohhut und einen Cinderella-Aufkleber auf dem nackten Oberarm, den June ihr dort hingeklebt hatte.
Isabel und June waren diesmal zusammen in den Keller gegangen, um nach den Tagebüchern ihrer Mutter zu suchen. Gemeinsam hatten sie noch einmal sämtliche Koffer durchgesehen, doch die Tagebücher blieben unauffindbar. Dafür waren sie auf insgesamt zwölf Fotoalben gestoßen, in die sie seit einer halben Stunde versunken waren. Lolly hatte Isabel im Laufe der Jahre immer mal wieder an die Alben erinnert, doch Isabel hatte sich in den Wochen nach dem Unfall lediglich ein paar Lieblingsfotos herausgesucht und sich mit dem Rest nie auseinandergesetzt. Aus Angst vor den Erinnerungen. Vor dem Schmerz. Vor Reue.
Vorhin war Isabel auf der Suche nach einem Pullover hinauf ins Schlafzimmer gegangen und hatte June mit verlorenem Blick draußen auf dem Balkon vorgefunden. Ihr Gesicht war so traurig gewesen, dass Isabel beinahe selbst angefangen hätte zu weinen. Es war jetzt zwei Tage her, seit June von John Smiths Tod erfahren hatte. Sie stand zwar inzwischen wieder auf, bewegte sich durchs Haus und machte für Charlie gute Miene, doch im Grunde war June am Boden zerstört. Isabel hatte ihr vorgeschlagen, mit in den Keller zu kommen und ihr bei der Suche nach den Tagebüchern zu helfen, obwohl sie nicht wusste, ob diese Suche June irgendwie helfen würde oder sie nur an noch mehr Verlust erinnerte, doch June hatte genickt und war ihr nach unten gefolgt.
Die Dinge ihrer Eltern, das Lieblingskleid ihrer Mutter, die runde John-Lennon-Brille ihres Vaters, schienen bei June eine Wehmut auszulösen, die auf ihre eigene Weise heilsam war. Sie hatte lachend die Brille hochgehalten und sinnend einer Erinnerung nachgehangen, ohne zu sagen, woran sie dachte. Danach hatte sie das Gesicht in dem Schal vergraben, den ihr Vater getragen hatte, als er starb, ein Schal aus dunkelblauer Wolle, den ihre Mutter ihm gestrickt hatte. Sie hatte angefangen zu weinen, Isabel hatte sie in den Arm genommen, und June hatte zwischen lauten Schluchzern gewimmert: «Alle sterben! Alle, alle sterben!», immer wieder, bis es Isabel fast das Herz brach.
Dann, als Isabel schon Angst hatte, June würde zusammenbrechen, hatte sie zwischen den Fotoalben ein Bündel Briefe entdeckt. Sie stammten aus dem letzten Jahr, in dem sie und June in den Sommerferien gemeinsam ins Ferienlager gefahren waren. Isabel war damals vierzehn gewesen und June elf. Isabel hatte jede Minute ausgekostet, die sie weg von zu Hause war, auch wenn die Betreuer und der Leiter ihr mehrmals angedroht hatten, sie umgehend nach Hause zu schicken, falls sie noch eine einzige Regel verletzte. June aber hatte fürchterlich unter Heimweh gelitten. Isabel zog den obersten Brief aus dem Stapel und fing an, ihn laut vorzulesen. June rückte neben sie, um ihr über die Schulter zu schauen.
Mein süßes, kleines Junikäferchen,
ich habe gehört, dass dir im Ferienlager alles ein bisschen zu viel wird und du am liebsten nach Hause möchtest. Ich weiß, dass du im Augenblick ziemlich viele unbekannte Dinge erlebst, und das kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Dabei bist du doch ein unglaublich kluges, starkes Mädchen mit einem riesengroßen Herz. Du interessierst dich für so viele Dinge, und eins weiß ich genau: Wenn du dem Ferienlager eine Chance gibst, wirst du dort deinen Platz und auch viele Freunde finden, und plötzlich wirst du merken, dass du dir wünschst, das Ferienlager würde nie zu Ende gehen. Weißt du was, June? Wir lassen uns jetzt noch eine Woche Zeit, okay? Wenn du es dann immer noch so schrecklich dort findest, dann kommen Dad und ich dich abholen. Und bis dahin zeigst du allen im Ferienlager, wie du wirklich bist – witzig, klug, einfühlsam, kreativ, phantasievoll, eine tolle Tänzerin und eine super
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