Der Sommer der Frauen
fühlen – es sich doch noch kurz im Aufenthaltsraum oder draußen auf der Veranda gemütlich zu machen. Und das war’s. Kein
Wie geht es dir?
Kein
Wo ist Edward?
Kein
Ich freue mich, dass du da bist.
Nur die übliche Distanziertheit. Lolly hatte Isabel kaum angesehen.
Was ausnahmsweise nicht schlecht war, weil Isabels Augen vom vielen Weinen knallrot waren. Nachdem sie am Vorabend rausgefunden hatte, dass der anonyme Brief nicht nur für sie bestimmt, sondern auch noch inhaltlich unfassbar zutreffend war, war sie nach Hause zurückgefahren, hatte wie betäubt zwei Koffer mit irgendwelchen Klamotten und Kosmetika vollgestopft, hatte sich ins Auto gesetzt und war vier Stunden lang gefahren, ehe sie anhalten musste, um endlich den herzzerreißenden Schluchzern Platz zu machen, die sich quer durch Rhode Island und Massachusetts und New Hampshire in ihr angestaut hatten. Da war sie irgendwo in Südmaine gewesen, in Ogunquit oder Kennebunkport. Sie hatte das nächstbeste Motel angesteuert, sich auf dem Bett zusammengekauert und so laut geweint, dass es ein Wunder war, dass sich niemand beschwert hatte.
Sie hatte die zwei Dutzend Anrufe von Edward gestern Abend und auch alle von heute ignoriert, hatte nur wie erstarrt dem Klingelton ihres iPhones gelauscht, seltsam getröstet von dem Gedanken, dass er sich wenigstens genug um sie sorgte, um ständig wieder anzurufen. Und um Verzeihung zu bitten.
Das hatte sie zumindest geglaubt, bis sie vor einer halben Stunde schließlich doch ans Telefon gegangen war – beinahe vierundzwanzig Stunden, nachdem sie Edward mit dieser Frau entdeckt hatte. Auf der Route 27 war das gewesen, kurz hinter Wiscasset, nur noch eine Viertelstunde vor Boothbay Harbor. Die vertraute Umgebung, die Blaubeerstände, die Chandler Farm mit den Hügeln, auf denen die Galloways grasten, deren breite, schwarz-weiß gestreifte Körper sich deutlich gegen das Grün der Wälder im Hintergrund abzeichneten, hatten Isabel das Gefühl gegeben, nicht mehr ganz so alleine zu sein, und sie war an einem weißen Weidezaun rechts rangefahren und ans Telefon gegangen.
Sie hatte ihm zugehört, hatte gehört, was er ihr zu sagen hatte, und dann war alles still geworden. Ihre Ohren hatten sich angefühlt wie mit Watte gefüllt, ihr Mund war staubtrocken geworden und sie hatte wieder angefangen zu weinen, obwohl sie gedacht hatte, es wären keine Tränen mehr übrig. Sie hatte versucht, sich auf die Bullen hinter dem Zaun zu konzentrieren, auf die beiden Gänse, die einer roten Katze direkt vor der Nase herumspazierten, die ihrerseits damit beschäftigt war, ein Blatt im Wind zu beobachten. Isabel hatte das Telefon in ihren Schoß fallen lassen, und Edwards Stimme war dumpf zu ihr hinaufgedrungen: «Isabel? Isabel, bist du noch dran?» Und dann hatte sie
Anruf beenden
gedrückt und war einfach sitzen geblieben, hatte die Gänse angestarrt, die Katze und die Bullen, völlig unter Schock, bis irgendwann jemand ans Autofenster geklopft und gefragt hatte, ob sie sich verfahren hätte und eine Wegbeschreibung bräuchte, mit ihrem Nummernschild aus Connecticut.
Daraufhin hatte sie aus dem geöffneten Wagenfenster heraus eine Schale Blaubeeren gekauft, um ein Stückchen der tröstlichen Farm mitzunehmen, und die Frau mit den grünen Gummistiefeln und einem mit dem Logo der Chandler Farm bedruckten Overall hatte Isabel noch einen Strauß Wildblumen geschenkt und gesagt: «Von mir. Um Ihren Tag ein bisschen aufzuhellen.»
«Und, woher stammen Sie?», fragte jetzt eine junge Frau, die es sich im Aufenthaltsraum gemütlich gemacht hatte. Ein Hausgast. Sonnengebräunt, groß, eine perlmuttweiße Sonnenbrille in die Haare geschoben, eine Ausgabe von
People
auf dem Schoß. Isabel war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Frau hereingekommen war. Isabel beneidete sie um ihr offensichtliches Wohlbehagen, um ihren Kakaobutterduft, um die Fähigkeit, eine Klatschzeitschrift zu lesen.
«Ich bin gar nicht hier zu Gast», sagte Isabel, den Blick noch starrer auf das Porträt gerichtet. «Ich meine, ich bin nicht von hier, also, irgendwie doch, aber ich lebe nicht mehr hier. Ich bin zu Besuch.»
Ich weiß eigentlich selbst nicht so genau, was ich bin
, dachte Isabel.
«Ich dachte, Sie hätten gesagt, sie wären nicht hier zu Gast», hakte die Frau nach und zog verwirrt die sommersprossige Nase kraus. «Also, ich bin aus New York. New York City. Morgen reise ich schon ab. Ach, ich wünschte, ich
Weitere Kostenlose Bücher